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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Bilder von der Ostseeküste.

Mit Abbildungen von Robert Aßmus.[1]
1.0 Land und Leute in Esthland.

Nordische Frühlingsnacht! Wer je unter deinem Zauber gestanden, wird deiner Reize nie vergessen. Es war in der ersten Hälfte des Juni, als unser Schiff fast geräuschlos durch die ruhige milchweiße See glitt, an deren Horizonte ein goldener Schein von West nach Ost langsam dahinzog. Dort feierten Abendroth und Morgenroth ihr kurzes Zusammentreffen. An Bord herrschte Stille. Die Helle dieser Nächte regt die Nerven auf und hält den Schlaf fern, aber sie weckt zugleich eine weihevolle Stimmung, und wie der Schweizer das Glühen seiner Heimathberge mit immer neuer Bewunderung wahrnimmt, so erhebt sich auch das Herz des Nordländers immer wieder an dem Zauber dieser Nachthelle im Frühling,

Solcher Stimmung schien auch der Mann nachzuhängen, der abgesondert von den übrigen Reisenden neben dem Rade des Steuermannes saß und nach dem dunklen Landstreifen ausschaute, der immer deutlicher am Horizont auftauchte. Der Luftzug spielte in den langen grauen Haaren des Alten und bauschte seinen Mantel weit auf. Seine Gestalt schien von ungewöhnlicher Größe, und ein Zug der Begeisterung lag auf dem alten, ausdrucksvollen Gesichte. Ich mußte des Wannemunne[WS 1], des göttlichen Sängers gedenken, welcher jenem Lande vor uns die Töne gebracht, den Bäumen und Flüssen das Rauschen und Brausen, den Vögeln die Stimme und den Menschen das Lied, ihr Glück und ihr Leid zu singen und Altvater zu preisen.

Ich gesellte, mich zu dem Alten. Er gab zuerst nur zögernd und mit halbunterdrückter Stimme Antwort auf meine Fragen und lüftete leise den Mantel. Da sah ich, daß in seinem Schooße ein blondlockiges Kind schlummerte.

„Der einzige Schatz,“ sagte ich mir, „den der Mann aus Stürmen und Nöthen eines langen Lebens gerettet." Und nun erfuhr ich aus dem eigenen Munde des Mannes sein Lebensloos: verführt durch Vorspiegelungen reichlichen Erwerbs war er einst jung und muthig mit der Gattin in die Ferne gezogen; mühsam hatte er gearbeitet und dem Schicksal ein bescheidenes Glück abgerungen. Aber sein Herz war in der Heimath geblieben. Nun waren schwere Schläge auf ihn gefallen. Das Haus, das er sich am Wolga-Ufer gebaut und mit unendlicher Mühe mit Bäumen umpflanzt und geschützt hatte, war einem Brande zum Opfer gefallen; Weib und Kinder waren ihm an verheerender Krankheit gestorben; die Stammesgenossen, die sich um ihn gesammelt, waren weitergewandert; da beschloß er aus dem Elend wieder heimzuziehen zu seinem Volke, um das Einzige, was ihm geblieben, die Enkelin, wieder der alten Gemeinde zuzuführen und selbst seinen Leib dort zu betten, wo die Mutter in der Rauchstube seine Hängewiege geschaukelt hatte.

Sein Loos war das der meisten esthnischen Auswanderer. Mit geringen Ausnahmen verkommen und verschwinden sie in der Fremde. Ihre Niederlassungen blühen vielleicht für kurze Zeit auf, aber dann sind sie verweht oder ihres nationalen Charakters entkleidet; denn es ist eine alte Erfahrung: der Esthe, der sich in seiner Heimath unter Heimathgenossen zäh zu erhalten weiß, geht, wenn er einzeln auf fremden Boden verpflanzt wird, zu Grunde. Und wenn er jene verließ, um deutscher Herrschaft zu entgehen, preist er es in seiner Colonie als ein Glück, wenn eine deutsche Colonie in der Nähe ist, in deren Schule er seine Kinder schicken kann. Er lernt an der Wolga das Deutsch, das ihm am finnischen Busen so verhaßt klang. Auch mein alter Wannemunne und sein Großkind sprachen deutsch.

Die Mitteilungen über sein Schicksal erleichterten des Alten Herz und lösten ihm die Zunge. Er begann von den Erinnerungen seiner Kindheit und Jugend zu reden und summte dann und wann ein esthnisches Lied.

Unser Dampfer war inzwischen in den Sund eingelaufen, der das esthländische Festland von den zur Provinz Livland gehörigen, doch von Esthen bewohnten Inseln trennt. Links – westlich – lag im Vordergründe die Insel Mohn, hinter derselben der lange Streifen der ösel’schen[WS 2] Küste. Dies war einst die Heimath weit berüchtigter Seefahrer: denn von hier aus unternahmen die Oeselaner ihre Raubzüge an die Küste der Ostsee oder tief in das ihnen stammverwandte Esthland hinein.

Kühne Seefahrer sind die Oeselaner bis heute geblieben. Ihre einmastigen Böte, scheinbar kaum zur Küstenfahrt und zum Holztransport geeignet, vermittelten in den Kriegsjahren 1854 und 1855 einen lebhaften Handel mit Schweden und der preußischen Küste und reizen auch jetzt noch die besondere Aufmerksamkeit der Grenz- und Zollwächter. In Trachten und Sagen bewahren sie treu die alten Ueberlieferungen des Volkes.

Uns zur Rechten dehnte sich die flache Küste des esthländischen Festlandes aus. Die Dampfpfeife des Schiffes schrillte durch die stille Morgenluft; die Räder schlugen immer langsamer in das Wasser, und endlich lag der Dampfer still, ohne Anker zu werfen. Ein großes Boot, das dem Dampfer neue Passagiere zuführte, kam zu uns heran. Sechs kräftige Ruderer in dunkelbraunen Jacken halfen den Passagieren zu uns herüber an Bord und wechselten dagegen die Aussteigenden ein, unter denen auch der alte Wanderer, sein Großkind und ich nicht fehlten. Einige Commandoworte, kurze Fragen, kurze Antworten — sonst alles so still, daß man trotz der Bewegung auf Schiff und Boot das Plätschern der Wellen am Kiel hörte. Dann senkten sich die Ruder tactmäßig in’s Wasser und führten uns der Landungsstelle von Werder auf esthländischem Boden zu, während das Schiff neuen Dampf ausstieß und seine Bahn weiter zog nach Hapsal, Reval und Petersburg.

In gleicher Stille vollzog sich unsere Landung in Werder. Kein Feilschen und Schreien, keine Zudringlichkeit der Dienstfertigen; die Ruderer trugen das Gepäck in die Poststation, und die Reisenden trennten sich mit kurzem Gruß.

In einiger Entfernung erhob sich aus den Baumkronen eines Parkes ein stattlicher Herrensitz, Schloß Werder, von woher das Gespann für die Reisenden mit Extrapost beschafft werden mußte. Die halbe Stunde, die hierüber verstrich, war der Lectüre des abgegriffenen Klagebuches gewidmet. Erst viel später habe ich den Werth der Lectüre dieses Buches verstanden: voll schlechter Orthographie und schlechterer Kalligraphie, ist es, wie die anderen auf esthländischen Poststationen, nichts mehr noch weniger als eine treffende Illustration zweier in Esthland sich bekämpfender Elemente.

Fast sämmtliche Klagen, die ich in Werder las, galten der Langsamkeit der Beförderung; fast sämmtliche waren mit Erbitterung gegen die Gutsherrschaft, von der die Pferde zu beziehen sind, gerichtet; fast sämmtliche stammten von russischen Reisenden her, und endlich bezeugte der Landesbeamte, welcher die Beschwerden zu untersuchen gehabt, daß sie fast alle grundlos gewesen seien. Man braucht nicht anzunehmen, daß jede Untersuchung mit äußerster Strenge geführt worden sei, um doch schließen zu dürfen, daß man den Russen mit Recht anklagt, er lasse auf Reisen dem Hochmuth, der Ungeduld und der Rechthaberei die Zügel schießen.

Die Sonne schickte ihre ersten Strahlen über die saftgrünen Felder, die dunklen Tannen und die lichten Birken hin, als ich den von Schloß Werder inzwischen angelangten leichten Korbwagen bestieg und dann lustig auf ebener Straße nach Esthland hineinrollte.

Es ist eines der kleinsten Gouvernements des russischen Reichs und hat doch die Ausdehnung des Königreichs Württemberg. Aber auf seiner Fläche von 358 Quadratmeilen wohnt nicht einmal der fünfte Theil der Bevölkerung dieses Landes.[2]

Die geringe Dichtigkeit der Bevölkerung giebt dem Verkehr im Lande den Charakter. Nur zwei Bahnlinien durchschneiden

  1. Wir eröffnen mit diesem illustrirten Artikel die Reihe der von uns früher angekündigten vielversprechenden Schilderungen über Land und Leute an der deutschen Ostseeküste und fühlen uns veranlaßt, allen Denen, welche unsern Specialartisten, Herrn Robert Aßmus, auf seiner im Auftrage der „Gartenlaube“ unternommenen Reise nach den Städten der Ostsee in liebenswürdigster Weise mit Rath und That unterstützten, hiermit im Namen des Künstlers sowie der „Gartenlaube“ den herzlichsten Dank auszusprechen.
    D. Red.
  2. Die letzte Volkszählung, deren Resultate amtlich bis jetzt noch nicht veröffentlicht wurden, hat die Ziffer von 376,787 Bewohnern ergeben. Das Gesammtareal Esthlands vertheilt sich auf 16,58 Procent Ackerland, 41,73 Procent Wiesen und Weiden, 18,98 Procent Busch und Wald und 22,68 Procent Moor und sonstiges unfruchtbares Land.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Wannemunne: Vanemuine
  2. Ösel: die Insel Saaremaa
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 398. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_398.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2023)