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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883)

vor Strafe schütze, so stellten derartige Entscheidungen Beamten gegenüber, die sich eines offenkundigen Amtsvergehens schuldig gemacht hatten, Grundsätze auf, nach welchen bei einem Beamten, der sich über die Ausdehnung seiner Befugnisse nicht völlig klar sei, der „gute Glaube“ angenommen und deshalb die Sache in milderem Lichte aufgefaßt werden müsse.

Derartige Urtheile schlugen dem öffentlichen Rechtsbewußtsein geradezu in’s Gesicht; denn wenn schon vom einfachen Bürger verlangt wird, daß er in allen Lebensbeziehungen „diligentiam prästirt“, das heißt sich der Tragweite seiner Handlungen und seiner Verantwortlichkeit bewußt ist, um wie viel mehr ist dies vom Beamten in Ausübung seines Amtes zu verlangen, das ihm vom Staate, das heißt von der Gesammtheit der Staatsbürger zu ihrem Schutze und zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung übertragen worden ist! Da sich solche Urtheile häuften – allgemein bekannte Einzelfälle will ich an dieser Stelle nicht anführen – namentlich wo es sich um die Klagen von Bürgern gegen Uebergriffe und Ausschreitungen untergeordneter Organe der Polizeigewalt handelt, so wurde die Mißstimmung eine immer allgemeinere, und es war nicht mehr zu leugnen, daß in allen Schichten der Bevölkerung ein Gefühl der Rechtsunsicherheit, Rechtsungleichheit und des mangelnden Rechtsschutzes Platz griff, das mit der Zeit einen bedeutenden Umfang anzunehmen drohte. Ja, die Sache hatte auch einen politischen Beigeschmack, da man einzelnen richterlichen Urtheilen eine gewisse Einseitigkeit in dieser Richtung auch durch die wohlwollendste Auslegungskunst nicht abzustreifen vermochte.

Diese verletzten Empfindungen drängten um so mehr zu einem Ausdrucke in der Oeffentlichkeit, als ja nicht mehr, wie zur Zeit des beschränkten Unterthanenverstandes, der Laie von der Theilnahme an der Rechtspflege ausgeschlossen, sondern im Schwur- und Schöffengericht zu lebendiger und einflußreicher Mitarbeit berufen ist. Eine je größere Ausdehnung diese Theilnahme des Laienelementes an der Rechtspflege gewonnen hat, um so größer wird in immer weiteren Volkskreisen das Interesse an den Fragen der Gesetzgebung, um so lebhafter der Trieb nach Belehrung, um so berechtigter, schärfer und sachlicher die Kritik sowohl der Einzelerscheinungen wie des Gesammtorganismus.

Also, was hier in der Seele des Volkes wogt und drängt, muß einen Abzugscanal finden, falls nicht das Gift im Innern weiter zehren und dem Staatsleben unheilbare Wunden schlagen soll; denn im Volke ist man nur zu leicht geneigt, einzelne schwer empfundene Uebelstände dem Ganzen zur Last zu legen, und man kann es häufig genug hören, wie bei einer Besprechung der oben angedeuteten Mißstände die Justizgesetzgebung in Bausch und Bogen verurtheilt wird.

Es versteht sich von selbst, daß in erster Linie die Presse die Aufgabe hat, in solchen Dingen helfend und vermittelnd aufzutreten. Aber die Presse wird nach so vielen Seiten hin in Anspruch genommen und muß ihre Thätigkeit so zersplittern, daß sie zwar allenfalls in der Lage ist, einzelne in den Vordergrund des öffentlichen Interesses geschobene Fälle speciell zu erörtern, daß es ihr aber an Zeit und Raum fehlt, die Entwickelung der einschlägigen Verhältnisse mit Aufmerksamkeit, Vollständigkeit und Consequenz zu verfolgen. Um dies zu erreichen, muß eine Stelle geschaffen werden, bei der jeder Einzelne zu Worte kommt, jeder Einzelne seine persönlichen Erfahrungen, Ansichten, Bedürfnisse, Wünsche zum Ausdruck bringen kann; denn dadurch allein lassen sich die Kernpunkte, gegen welche sich die allgemeine Unzufriedenheit richtet, erkennen und die Mittel zur Abhülfe einer unbefangenen Prüfung unterwerfen.

Der Presse hierin helfend und unterstützend zur Seite zu stehen, ist nun zweifellos Aufgabe des ja in Deutschland im Allgemeinen schon zu hoher Blüthe gediehenen Vereinswesens, und es geschah zum Theil in Verfolg der oben entwickelten Erwägungen, daß im September des vorigen Jahres ein Comité aus Vertretern aller Stände – Juristen, Schriftstellern, Kaufleuten, Handwerkern, Gewerbetreibenden, Industriellen etc. – zusammentrat und unter dem Vorsitz des Rechtsanwalts Gustav Kauffmann, eines ebenso durch gediegene wissenschaftliche Bildung wie schneidige Energie ausgezeichneten jungen Berliner Juristen, einen „Verein für Rechtsschutz und Justizreform“ in’s Leben rief. Der Verein wandte sich mit einem knappen, klaren Aufruf an die Mitbürger aus sämmtlichen politischen Parteien und hatte schon nach Verlauf weniger Monate die Genugthuung, über 600 Mitglieder zu zählen, wie ihn auch zahlreiche Zuschriften aus allen Theilen des Reiches allseitiger Zustimmung zu seinen Tendenzen versicherten.

Die überaus zahlreichen Verehrer des formalen Rechtes in der Juristenwelt, die von irgend welchem Einflusse des Laienelementes auf die Ausbildung der juristischen Wissenschaft und Praxis nichts hören wollen, stehen natürlich der Gründung eines solchen Vereins mit theils spöttischem, theils verächtlichem Lächeln gegenüber. Doch sehr mit Unrecht! Die Rechtspflege wie das Recht überhaupt ist ein guter, vielleicht der wichtigste Theil unseres Volkslebens, und die Juristen sind keineswegs berufen, das Recht für sich allein zu ordnen. Die Rechtspflege insbesondere soll eine gute, eine schnelle und eine gerechte sein. Es sprechen viele wirthschaftliche und politische Gesichtspunkte mit, die nicht so ohne weiteres am grünen Tisch und in der Gelehrtenstube zu erledigen sind, und deshalb muß gerade dem Laienelement Gelegenheit gegeben werden, sich über seine Bedürfnisse und Bestrebungen zu äußern. Das ist aber gerade bei den neuen Gesetzen nicht zur Genüge in’s Auge gefaßt worden, wie schon aus der Zusammensetzung der Achtundzwanziger-Commission hervorgeht, welche am 18. Januar 1875 vom Reichstage zur Vorberatung der Justizgesetzentwürfe gewählt wurde. Sämmtliche Mitglieder waren Juristen, zum Theil Richter zweiter und dritter Instanz, die mit der Oeffentlichkeit keineswegs in lebendiger Wechselwirkung standen, und nur ein einziger Laie befand sich darunter – der Director der brandenburgischen Landesirrenanstalt in Neustadt-Eberswalde. Das klingt wie ein Witz – ist aber eine Thatsache, und es ist leicht begreiflich, daß eine so zusammengesetzte Commission dem Interesse des großen Publicums nicht Rechnung tragen konnte, ein Fehler, der sich natürlich bei dem noch viel complicirteren Mechanismus, mit dem der Reichstag arbeitet, nicht wieder gut machen ließ.

Doch auch das Zeugniß wissenschaftlicher Autoritäten spricht für die freiere Auffassung. Da ist zunächst der frühere preußische Appellationsgerichts-Vicepräsident von Kirchmann, der in seiner Schrift: „Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“ beklagt, daß die Rechtswissenschaft immer hundert Jahre hinter dem öffentlichen Rechtsbewußtsein einherhinke; da ist Beseler, der vor einem Jahrzehnt in seinem Werk: „Volksrecht und Juristenrecht“ gleichfalls den Gegensatz zwischen den gelehrten Richtern und dem Recht, das im Volke lebendig ist, betonte, wobei er allerdings in den Irrthum verfiel, allzusehr auf die alten, längst abgestorbenen germanischen Rechtsgewohnheiten zurückzugreifen; denn eine Reform unseres Rechtes darf nicht in die altersgraue Vorzeit ihre Blicke zurückwerfen, sondern muß das lebendige Interesse unseres modernen Volkslebens, unserer riesig entwickelten Verkehrsverhältnisse in’s Auge fassen. Ferner war es einer der hervorragendsten Juristen der Gegenwart, Jhering, der in seiner epochemachenden Schrift: „Der Kampf um’s Recht“ das ganze Volk dazu aufforderte, bei Rechtsverletzungen mit aller Energie um sein Recht zu kämpfen, und es als eine Feigheit bezeichnete, wenn man aus Scheu vor Kosten, Ungelegenheiten und Unbequemlichkeiten aller Art sein gutes Recht im Stiche ließe.

Dies also war die Veranlassung, welche zur Gründung des „Vereins für Rechtsschutz und Justizreform“ führte. Man sieht, daß er sich keine leichte Aufgabe gestellt hat; er beabsichtigt erstens, dem Publicum eine Stelle zu schaffen, an der Jedermann mit Sicherheit darauf rechnen kann, freies Gehör und im Nothfalle Unterstützung mit Rath und That zu finden. Ob letzteres möglich ist, hängt natürlich ganz vom Charakter des einzelnen Falles ab. Es ereignet sich nicht selten, daß Jemand nur deshalb verurteilt wird, weil er nicht für genügende Verteidigung gesorgt hat, oder daß ein Proceß, der sichere Aussicht auf Gewinn bietet, nicht angestrengt wird, weil es dem Kläger an Geldmitteln fehlt. In solchen Fällen wird der Verein mit Wort und Schrift, mit juristischem Beirat und, wenn es nötig und nach Maßgabe seiner vorläufig noch geringen Mittel möglich ist, auch mit materieller Unterstützung eingreifen.

Daran schließt sich die weitere Aufgabe, durch Vorträge und Besprechungen energisch auf die Beseitigung allgemeiner Mißstände hinzuwirken. Dies kann einmal dadurch geschehen, daß man die Nothwendigkeit ihrer Beseitigung dem öffentlichen Bewußtsein klar zu machen sucht, aus welchem heraus sie zuletzt ja doch ihren Weg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1883). Leipzig: Ernst Keil, 1883, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1883)_166.jpg&oldid=- (Version vom 10.3.2023)