Seite:Die Gartenlaube (1889) 215.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

wankelmüthigen Herdegen, der, eine Art von jugendlichem Don Juan, doch zu seiner Liebe zurückkehrt. Was Herdegen da alles zu Land und Meer im Orient erlebt, das giebt der Erzählung bunteren Farbenglanz; doch am liebsten verweilt man im alten Nürnberg, das sich ja auch zur Zeit des Reichstags mit festlichem Glanze schmückt. Da kehren wir in die Häuser der reichen Rathsherren ein, unter denen sich allerlei sonderbare Käuze finden, oder bei den reichgewordenen Handwerkern, oder im Forsthause im Walde, der so mit seinem Blätterrauschen und Vogelgesang zu allen Zeiten derselbe ist; aber prickelnde Ungeduld muß dem Leser fernbleiben; er muß dafür mit vollem Behagen sich einer liebevoll ausgeführten Detailmalerei hingeben können.

In die Napoleonische Zeit führt uns der Roman von Friedrich Spielhagen „Noblesse oblige“, der bereits in fünfter Auflage vorliegt (Leipzig, Staackmann). Ohne Frage fühlen wir hier festeren Boden unter unseren Füßen als in jenen mehr archäologischen Romanen; denn ohne jede gelehrte Vermittelung sind wir gleich mitten in der Handlung; es sind dieselben Gegensätze, die auch unsere Zeit bewegen; es sind Menschen, mit denen wir denken und fühlen, Blut von unserm Blut, Geist von unserm Geist.

Der Roman zeigt alle Vorzüge der Spielhagenschen Darstellungsweise: lebendige Schilderung der Vorgänge und Personen, feine Seelenmalerei und einen reichen geistigen Inhalt; auch verliert er sich fast nirgends ins behaglich Breite, was man nicht allen früheren Werken des Autors nachsagen kann. Den historischen Kanevas, in welchen das dichterische Gemälde hineingestickt ist, bilden die Zustände in Hamburg unter der französischen Occupation; die Schilderung der grausamen Mißhandlungen, welche die Stadt selbst und ihre Bürger von einer übermüthigen Soldateska und ihren Führern erdulden mußten, der Volksbewegungen und Kämpfe ist eine sehr farbenreiche, und die Hauptcharaktere sind in den Zwiespalt der Zeit hineingestellt und spiegeln ihn in ihren Empfindungen wieder. Die Heldin des Romans ist eine Hamburger Senatorstochter, welche den französischen Offizier Hippolyte d’Héricourt liebt. Das Verhältniß wird durch den Feldzug Napoleons nach Rußland unterbrochen; der alte Warburg unterschlägt alle Liebesbriefe seiner Tochter und diejenigen, welche von Rußlands Schlachtfeldern aus an sie einlaufen; daher Zweifel, Unglauben, Erkaltung zwischen den Liebenden, und als Warburg dem Bankerott nahe ist und nur durch einen jungen reichen Kaufmann, der um Minnas Hand wirbt, gerettet werden kann, opfert sich Minna und geht eine Ehe ohne Liebe ein. Die Zeichnung dieses Kaufmanns Theodor Billow ist vortrefflich; diese Finanzgröße voll Geldstolz, kleinlicher Gesinnung, Kaltherzigkeit, Gleichgültigkeit gegen die Interessen des Vaterlandes ist ein scharf umrissenes Charakterbild. Minna schenkt ihm einen Sohn, der bald darauf wieder stirbt. Sie hat sich den Hamburger Patrioten angeschlossen und muß viel Unwürdiges von der Franzosenherrschaft erdulden. Da sieht sie ihren Geliebten wieder; die alte Leidenschaft erfaßt sie; die Unterschlagung der Briefe kommt zu Tage. Dem Gatten hatte sie einen Absagebrief geschrieben, nachdem er in London, wo er sich aufhielt, kalt und roh die Kunde von der Geburt eines Sohnes aufgenommen; jenen Brief mit der Todesnachricht hatte er dort gar nicht mehr erhalten. Mit innerem Schwanken und Zögern nur wagt sich Minna, trotz ihrer glühenden Leidenschaft, dem französischen Offizier anzuvertrauen, der als ein edler Jünger Rousseaus, wenn er auch treu zu seiner Fahne hält, die Verwüstungen der Napoleonischen Kriegszüge verdammt. Ein Duell zwischen ihm und ihrem Bruder, einem hanseatischen Offizier und begeisterten Patrioten, sucht sie dadurch zu verhüten, daß sie auf das Schloß ihres Gatten zurückkehrt, den sie demnächst aus London erwartet.

Doch ein Meeressturm, den Spielhagen als meisterlicher Marinemaler schildert, verschlingt dicht an der Küste das Schiff, das ihn heimwärts trägt; aber auch d’Héricourt, der zur Rettung Billows ins Boot steigt, geht dabei zu Grunde. Dieser flüchtige Umriß der eigentlichen Begebenheiten des Romans muß aber lückenhaft erscheinen, da erst durch das vortrefflich geschilderte Seelenleben der Heldin die Linienführung ihre sich dem Verständniß voll erschließende Bedeutung erhält.

Man mag es eintönig finden, daß ein Motiv, wie die nicht an ihre Adresse gelangenden Briefe, sich auch in dem Verhältniß Minnas zu ihrem Gatten wiederholt; man mag ihren Gedanken, ein durch schwere Beleidigungen hervorgerufenes Duell dadurch zu verhüten, daß sie selbst sich gleichsam aus dem Wege räumt, nicht ganz stichhaltig finden: solche kleine Ausstellungen hindern nicht an der Anerkennung des Ganzen als eines aus dem Geiste der Zeit heraus geschaffenen Dichtwerkes, das reich ist an den Vorzügen, welche geistige Bedeutung und Kunst der Darstellung einer solchen Schöpfung verleihen.

Ganz in unsern neuesten Lebensverhältnissen spielt der Roman „Spitzen“ von Paul Lindau, der dritte jener Reihe von Romanen, die er unter dem Gesammttitel „Berlin“ erscheinen läßt (Stuttgart, Spemann). Der Verfasser hat sich mit den kriminalistischen Verhältnissen der Residenz, den Vorgängen in den Schwurgerichtssälen, dem Leben der Verbrecherwelt, den Eigenthümlichkeiten der Beamten, die sie zu überwachen und gelegentlich die Schuldigen zu ermitteln haben, ganz vertraut gemacht; wir erinnern uns, einige interessante Aufsätze von ihm über diese Themata gelesen zu haben. Aus solchen Studien ist sein neuer Roman erwachsen, der ein echter Berliner Kriminalroman ist. Die Grundlage der Handlung erinnert an Freytags „Valentine“ und an Victorien Sardous „Unsere braven Landleute“. Ein Edelmann, welcher den guten Ruf einer Dame schonen will, der durch das Bekanntwerden seines nächtlichen Besuches gefährdet werden müßte, schwört bei einem Prozeß, in den er als Zeuge mitverwickelt wird, einen Meineid. Es ist nämlich gleichzeitig mit seinem Besuch ein Einbruchsdiebstahl verübt worden, ganz wie in der „Valentine“, wo Saalfeld sich in ritterlicher Gesinnung selbst für den Dieb ausgiebt; nur statt der dort einbrechenden „Zigeuner“ sind es hier unehrliche Berliner Kinder. Zu den Hehlern und Hehlerinnen und in die Verbrecherspelunken führt uns der kundige Verfasser, der hier überall das richtige zutreffende Berliner Kolorit wählt. Jener Fürst, der den Meineid geschworen, wird, als er einen Erpressungsversuch zurückweist, kriminell angeklagt, aber doch von den Geschworenen freigesprochen. In diesem sehr eingehend dargestellten Prozeß zeigt der Verfasser seinen juristischen Scharfsinn; doch nach der Freisprechung erhält der junge Fürst eine Forderung von dem gekränkten Gatten und wird im Duell erschossen. Das alles ist spannend erzählt; doch warme Sympathien kann keiner der Hauptcharaktere erwecken, während die Gaunerei, die Spitzbubenkniffe, der Galgenhumor der Diebe und Hehler oft in drolliger Weise und mit großer Kenntniß der Nachtseiten des Berliner Lebens dargestellt sind.

In seinem nicht sehr umfangreichen Roman „Suam cuique“ (Leipzig, Karl Reißner) hat Ernst Wichert zu schildern versucht, daß ein Sprung über die Kluft der Stände oder vielmehr der Bildung bei der Wahl einer Lebensgefährtin nicht zum Heile gereiche, daß einem jeden die „Seine“ werden müsse, wie der Titel sagt. Ein junger reicher Baron, der zugleich ein Gelehrter ist und die akademische Carriere einschlagen will, verliebt sich in die schöne Zofe seiner Mutter und faßt den Entschluß, sie zu heirathen. Das Mädchen sträubt sich lange dagegen; die Familie sagt sich von dem Baron los, als die Verlobung öffentlich angezeigt wird; doch erst bei näherem Umgang mit der Braut lernt es der Baron erkennen, daß sie, in kleinbürgerlichen Verhältnissen und Anschauungen aufgewachsen, nicht zu ihm paßt, um so weniger, als sie in keiner Weise bildungsfähig ist; das Verhältniß löst sich wieder auf, als ein früherer Geliebter des Mädchens, der nach einem bestimmten Termin zurückkehren wollte, diesen Termin aber nicht eingehalten hatte, nun doch zurückkehrt. Der Baron aber heirathet eine hochgebildete, geistesverwandte Gutsnachbarin. Mit feinen Zügen der Seelenmalerei ist besonders die Zeit der Enttäuschung geschildert, in welcher das hübsche Mädchen so eigensinnig alle Versuche abwehrt, seine Bildung zu erhöhen.

Jedem das Seine – das gilt auch von der reichen Auswahl der neuen Unterhaltungslitteratur, mit deren Hauptwerken wir hier unsere Leser bekannt zu machen suchten. So mannigfach ist der Ton der Darstellung, so bunt aus allen Zeiten aufgegriffen sind die Stoffe, daß der verschiedenartigste Geschmack Befriedigung finden wird. Rudolf von Gottschall.




Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 215. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_215.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)