Seite:Die Gartenlaube (1889) 411.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Nicht im Geleise.

Roman von Ida Boy-Ed.
(Fortsetzung.)


Herr von Prasch setzt unweigerlich am einundzwanzigsten März den weißen Strohhut und am dito September die Pelzmütze auf,“ sagte Bendel und wandte sich dem Kellner zu, mit ihm über den Belag von Brötchen, die er essen wollte, zu unterhandeln.

Herr von Prasch that, als höre er die Hänselei nicht. Bendel hatte damals eine nette Notiz über das Wagnerbuch gemacht und er hoffte, daß Bendel über das bevorstehende Buch über Hölderlin eine noch nettere machen werde, und somit hätte er sich von Moritz Bendel sogar mißhandeln lassen.

„Aber bester Steinweber, Sie waren nicht im Theater?“ sagte auch er, „es war ein Abend – roh – empörend – man hat diesen armen Weinhardt ausgepfiffen – nun, wie man eben nur in Berlin auspfeifen kann. Mein Gott, der Mann muß sich ja wie geächtet fühlen!“

„Ausgepfiffen?“ rief Marbod, „aber ich fand bei der Lektüre das Stück nicht unbedeutend, und in Hamburg, Frankfurt und Leipzig hat es gefallen.“

„Du meine Güte,“ sprach Bendel mit ruhiger Verächtlichkeit, „was Prasch für enfantile Ansichten hat! Weinhardt sich geächtet fühlen! Mit der Hautbeschaffenheit! ‚Kinder,‘ sagte er zu mir und Müllberg, ‚den Sekt trinken wir beim nächsten Stück.‘ Und das reussirt auch. Das ist er und das Publikum bei seinen Schauspielen so gewohnt – einmal auf und einmal nieder. Wäre das heutige zufällig an einem Tage drangekommen, wo ein Erfolg an der Reihe war, hätte man rasend geklatscht.“

„Mit welchem Cynismus Sie von dem Werke mühseliger Arbeit sowohl als von dem Urtheil des Publikums sprechen, Sie, der Sie auf beides angewiesen sind und vor beidem Respekt haben sollten!“ sagte Marbod unwillig.

Bendel zuckte die Achseln.

„Ich würde mich nie getrauen, hier ein Stück aufführen zu lassen,“ sagte Herr von Prasch ängstlich.

„Sie gehören auch nicht zu denen, die in Versuchung kommen, eins zu schreiben“ bedeutete ihm Bendel, „Sie leben von Küchenabfallen.“

„Wieso?“ fragte Prasch ganz unbefangen.

Bendel wollte ihm darauf mit noch größerer Unbefangenheit die tiefe Verachtung klar machen, die er – Bendel – für jene hätte, welche nichts zu schreiben imstande wären, wenn andere nicht vorher geschrieben hätten; für jene, welche aus gleichgültigen Briefen, nebensächlichen Anekdoten großer Männer so lange Bücher und Artikel machten, bis sie selbst einen Namen hätten.

„Wie ich sie hasse,“ sprach Bendel, der mit olympischer Ruhe gegenwärtigen Personen die allergrößten Unannehmlichkeiten sagen konnte, „wie ich sie hasse, diese Goethe-Müller, Schiller-Meier, Wagner-Lehmann, Lessing-Schulze, die dann Autoritäten über ihren Helden geworden sind, ohne auch nur eines einzigen eigenen Gedankens fähig zu sein! Im ganzen halte ich es für geschmacklos, eine alte Anekdote zu erzählen, aber vielleicht kennen Sie sie nicht, lieber Prasch, und wenn Sie erst der Hölderlin-Prasch geworden sind, mögen Sie sich ihrer erinnern.“

„Ich bitte Sie!“ sagte Marbod, der die Anekdote kannte. Prasch sah ihn ängstlich an.

„Also,“ begann Bendel unerbittlich, „beim Bauern Klaas wird Heu gefahren und man hat von der Tenne bis zum Boden eine schräge Stiege errichtet, auf welcher das Heu hinauf geschafft wird. Der Ochs des Bauern frißt von den Abfällen, die auf der schrägen Ebene verstreut sind. Mit einem Male sieht unser Klaas, der vor der Thür steht, das Haupt seines Ochsen käuend aus der Bodenluke gucken. ‚Jehann,‘ fragt er seinen Knecht, ‚uns Os is up’n Böhn, woans is he rupper kamen?‘ – ‚Je, Herr, he hett sik rupper lickt.‘“

Einige hinzukommende Kollegen Bendels überhoben Prasch der Qual, auch noch zu lachen. Während Bendel diese begrüßte, flüsterte Prasch.

„Er ist doch boshaft.“

„Widerlegen Sie ihn, indem Sie Eigenes schaffen,“ sagte Marbod.

„Das hat die Gräfin Mollin mir auch schon gerathen,“ gab Prasch mit einer wahrhaft unglücklichen Miene zu. Man sah es dieser Miene an, daß er zugleich die Verpflichtung und das Nichtkönnen fühlte, seiner Freundin „Genie“ zu zeigen.

Nun wurde es sehr laut und lustig am Tisch; alle Welt machte gute und schlechte Witze über das zu Grabe getragene Stück. Fast jedermann zeigte Schadenfreude darüber, daß der allzu rasch emporgestiegene Autor wieder zurückgeschleudert worden sei.

Marbod mußte des Vergleiches gedenken, den Alfred einmal gemacht hatte, als er sagte, er sähe die ganze Welt auf einer Leiter klettern. Und Marbod fühlte den Unterschied zwischen sich und diesen Männern. Diese sahen höhnisch hinab auf die Nachklimmenden oder neidisch auf die Voranstrebenden; er aber sah nur empor zum Ziele.

Die Zerstreuung, die er gesucht, hatte er gefunden, aber ihm war doch recht leer ums Herz, als er spät in der Nacht heimkam. Und aus dem ganzen Chaos von Eindrücken, die er heute hatte aufnehmen müssen hob sich wieder lebhafter als jemals die wohlthuende Erinnerung an das blonde Mädchen, welches er beim stillen Samariterthum beobachtet hatte.

Aber zu dem Brief an seine Schwester war es nun zu spät geworden und er verschob ihn auf den folgenden Abend.

Am nächsten Morgen dachte er ernstlich nach, auf welche Weise er Alfred und seinem jungen Weibe wohl eine festliche Ankunft bereiten könnte. Er erbat sich Urlaub für diesen Tag und – sich seiner Mutter erinnernd, die alle Familienfeste so heiter zu verschönern gewußt hatte durch eine kleine Verschwendung in Blumen – kaufte er eine ganze Menge von blühenden Gewächsen, Sträußen und Kranzgewinden. Er ließ alles nach der alten Wohnung Alfreds schaffen, wo die Wirthin weitere zwei Zimmer herrichtete und dem jungen Mann auch gutwillig half, den blühenden Schmuck anzubringen.

Marbod war bei diesem festlichen Thun recht weh ums Herz. Ihm war es, als ob Gerdas Augen ihm zusähen und als ob er in diesen Augen eine große schmerzliche Frage läse. „Weiß sie davon?“ dachte er plötzlich. Und eine große Sorge ergriff ihn. „Was wird sie beginnen, wie es ertragen? Kann sie das überleben? Ist es nicht eine Schmach für sie? Muß sie sich nicht vergessen wähnen? Oder wenn sie ihn so durchschaut, daß sie weiß, er handelte in trotziger Verzweiflung – wird sie nicht kommen und diesem Weibe sagen: ‚Er ist dennoch mein‘?“

Je mehr die Stunde nahte, wo er Alfred begrüßen sollte, je mehr ergriff ihn, den stets Gesammelten, eine Nervosität, die ihn wahrhaft peinigte.

In den letzten Minuten vor der Einfahrt des Zuges, während er in der riesigen Glashalle des Bahnhofes stand, schlug ihm das Herz bis zum Halse hinauf.

Da – da kroch eine schwarze Schlange langsam heran; ein geller Pfiff durchschnitt die Luft.

Und da war Alfreds Gesicht am Fenster. Marbod lief am Zuge entlang bis zu dem Wagen, wo er den Freund gesehen hatte, und mit einer Bewegung, die sie beide sonst nie nach langer Trennung gezeigt hatten, fielen sie sich in die Arme.

Dann sah Marbod den Freund an. Der erschien ihm sehr bleich und überwacht, wie ein Mensch, dessen Züge von vielen schlaflosen Nächten zerstört sind. Und auf der Stirn, zwischen den Brauen hatte er eine Falte, die da früher so tief nicht gestanden.

Sie wechselten kein Wort, nur Blicke, tiefe, ernste Blicke.

„Und Dein Weib?“ fragte Marbod dann.

„Mein Weib? Ja – so,“ sagte Alfred aufwachend.

Auf der langen Reise, in vielen harmlos zerstreuenden Gesprächen mit Germaine hatte er fast vergessen, was gestern auf dem Standesamt in Baden geschehen war.

Er wandte sich um; Marbod sah voll Spannung auf die schöne, hohe Gestalt, die, ihm den Rücken wendend, noch beschäftigt war, Handgepäck aus dem Coupé zu nehmen. Er sah unter dem schwarzen Hut einen dicken Haarknoten hervorquellen.

„Seltsam – ebenso blond,“ dachte er.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 411. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_411.jpg&oldid=- (Version vom 1.4.2020)