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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Originalgestalten der heimischen Vogelwelt.[1]

Thiercharakterzeichnungen von Adolf und Karl Müller.
8.0 Kavaliere oder Patrizier.

Kavaliere! Patrizier! – Mancher unserer Leser mag uns wohl schon beim Anblick der in unseren Ueberschriften gewählten Benennungen im stillen den Vorwurf gemacht haben, daß wir mit solchen Ausdrücken allzusehr vermenschlichten. Aber man betrachte sich einmal einen Distelfinkenhahn im Mai, wenn er sich wiegt auf dem schwanken Zweige eines blühenden Obstbaums! Man beobachte sein zierliches, so offenbar selbstgefälliges Schwenken, Wenden und Drehen, begleitet von jenem wohllautenden hellen Minneton, mit dem er um die Gattin wirbt! Man schaue ihm zu, wie er, echt finkenhaft stets zum Kampfe bereit, mit dem Nebenbuhler anbindet und unter schmetterndem Geschrei, unter streitbaren Schnabel- und Krallenhieben mit dem Gegner rauft – man betrachte dieses ganze Gebahren im Verein mit seiner so außerordentlich schmucken Außenseite, und man wird unsere Taufe gerechtfertigt finden.

Fürwahr, ein feiner stolzer Vogel, dieser Distelfink! Niemals läßt er sich ein mit dem „süßen Pöbel“ der Gassen oder gar der Miststätten. Und wenn er auch mit den Scharen anderer Vögel im Herbste in die Hanf- oder Mohnfluren geräth; wenn ihn auch der strenge Winter zeitweise mit seinem Vetter Hänfling zusammen zu den Stauden und Gräsern an den Wegen und auf der Steppe treibt – er ist und bleibt dabei doch immer der vornehme Herr, der sich fernhält von dem übrigen Vogelgemenge.

Der Distelfink – so benannt nach seiner Lieblingsnahrung, dem Distelsamen – oder Stieglitz – nach seinem Lockruf „Stieglit“ – ist vermöge seiner allgemeinen Verbreitung in Europa ein in Stadt und Land so bekannter Bewohner der Vorhölzer, Baumreihen, Hage und Lustgärten, daß wir ihn nicht nach trockener Schablone zu beschreiben brauchen. Unsere Abbildung giebt ihn ja auch so deutlich und natürlich wieder, daß es nur noch der Uebersetzung der Zeichnung in die Farbe bedarf, um uns seine schöne geschmackvolle Erscheinung vor Augen zu rücken. Der degenspitze feste Schnabel ist beim alten Männchen elfenbeinweiß, am Grunde mattfleischfarben durchscheinend, mit einem schmalen schwärzlichen Striche über der oberen Spitze. Der Vorderkopf erscheint um Schnabel und Augen schwarz umsäumt, sonst bis über die feurigen braunen Augen hochkarminroth; das den Scheitel deckende helmförmige schwarze Feld zieht sich am Hinterkopf auf beiden Seiten wie ein Sturmband hinter den Wangen herunter, daselbst spitz verlaufend und mit dem Roth des Vorderkopfes die weißen Wangen einfassend. Die Hauptfarbe des Oberkörpers ist hellbraun, im Genick bis ins Weißliche übergehend. Die Unterseite ist weiß, mit zwei lichtbraunen, ins Gelbe spielenden nierenförmigen Flecken auf der Brust. Die Schwingen und den leicht gehaltenen Schwanz – beide beim Fliegen des Vogels einem schönen Husarenmäntelchen nicht unähnlich – ziert das gleiche Sammetschwarz wie den Scheitel, mit weißlichen Punkten an den Spitzen, die Schwingen zeigen außerdem auf ihrem Mittelfeld einen prachtvollen, lebhaft citronengelben Spiegel. Ist in diesem Kleide der Kavalier nicht fix und fertig? –

Und in der That, wie fein säuberlich hält er sein Gefieder durch fleißiges Baden, durch emsiges Putzen und Ordnen, wie glatt liegt es an seiner schlanken Figur!

Aber damit soll nicht etwa gesagt sein, daß der Distelfink nur ein schöner Vogel sei. Im Gegentheil, in ihm leben, der glänzenden Außenseite entsprechend, vorzügliche innere Eigenschaften, von denen uns hier nur eine beschäftigen soll, sein Gesang.

In der Gefangenschaft, im Zusammenleben mit Kanarienvögeln nimmt der Distelfink zuweilen deren Weisen an; im Freien aber behauptet er entschieden seine Eigenthümlichkeit. Die Freiheit ist sein Element.

„Flüchtig und flink,
Frei wie der Fink
Auf Sträuchern und Bäumen
In Himmelsräumen!“

Dieser Wahlspruch des Rekruten in „Wallensteins Lager“ paßt vortrefflich auf unseren prächtigen Gesellen. Wie er sich in kühnen scharfabgesetzten Bögen, in galoppartiger Bewegung elegant durch die Luft schwingt, so ist auch sein Lied eine wahre Reitermelodie. Es lassen sich zwei Abtheilungen heraushören, welche oft jede für sich allein erschallen, ebenso oft aber auch in kleinen Zwischenpausen hintereinander ausgeführt werden. Die erste Abtheilung ist eigentlich eine Einleitung zur zweiten, etwas längeren, dem Hauptgesang. Sie setzt sich zusammen aus des Vogels Locktönen oder aus ähnlichen, hüpfend-pfeifenden Lauten und einem geschlossenen, trompetenschmetternden Schlußsatz. Man fühlt sich an eine angaloppierende Reiterschar erinnert, welche mit dem Schlußsatz plötzlich pariert und hält. Feurig, kriegerisch klingen die raschen Rhythmen, die an Schwung noch gewinnen, wenn sie der Vogel bei seinem Niederschwingen auf einen Baumwipfel in der Luft schmettert. Der Hauptgesang ist im Grundton dem Vorgesang ähnlich, setzt aber in der Mitte eine abändernde rhythmische Partie ein, die bei guten Sängern die Silbe „Fink“ gewöhnlich dreimal hintereinander wiederholt, dann in einige etwas gehaltene hohe Noten übergeht und hierauf gewöhnlich mit dem schmetternden Schlußsatz des Vorgesanges endigt.

Im Mai heftet das Weibchen des Stieglitzpaares sein zierliches Nest – gleichsam ein lustiges Dachstubenkämmerchen – in die Gabelzweige der äußersten Wipfel von Obstbäumen, auch wohl auf die niederen Stämmchen der Baumschulen, ja auf Rosenbäumchen oder aber auf die höchsten Fichten, Pappeln, Eschen und Ahorne. Die luftige Wiege der Kleinen ist ein wahres Kunstwerk, dessen nette, zierliche Gestalt und feines Filzgewebe mit den schönsten Gebilden der Nestbaukunst unserer heimischen Vögel sich messen kann. Die jungen Distelfinkchen sind allerliebste niedliche Geschöpfe, denen es bald nach echter Kadettenart zu eng im Hause wird. Ein Ruck von Menschenhand am Aste scheucht oft das ganze lose Völkchen aus dem Neste. Man hat von namhafter Seite in Abrede gestellt, daß man das Geschlecht der flüggen Nestlinge unterscheiden könne. Wir behaupten entschieden, daß ein helleres Braungelb mit spärlicherer Punktierung die Männchen von den dunkleren, graueren und dichter punktierten Weibchen unterscheidet, und daß wir uns von unserer Jugendzeit an niemals bei diesen Kennzeichen getäuscht haben. Frischer Muth und Selbstvertrauen regt sich früh bei den Jungen. Wohl fehlt ihnen noch das Prachtkleid der Alten; aber schon hat die Natur ihrem gemeinen sperlingsgrau punktierten Kleide gleichsam ein Portepeeabzeichen aufgedrückt: die gelben Aufschläge auf den schwarzbraunen Flügelchen. Schnell wachsen die aus dem Kropfe gefütterten Kleinen heran, ihre Kindersprache „Zibit“ geht bald, gegen den Nachsommer, in den echten Stieglitzenton „Stieglit“ über, und nun sind dem hoffnungsvollen Junker die ersten glänzenden Federsprossen – sagen wir die „Lieutenantsepauletten“ – verliehen worden. Der Karmin wächst mit allen Prachtfarben an unserem jungen Vogel, bis dieser als vollkommener Distelfink in herrlicher Gala den Winter antritt.

Haben wir den Distelfinken als kriegerischen Kavalier kennengelernt, so findet sich diese Neigung zu Streit und Kampf vollends ausgeprägt bei dem Edel- oder Buchfinken. „Da giebt es,“ wie wir in unserem Buche „Charakterzeichnungen der Singvögel“ ausgeführt haben, „lustige schallende Turnei, daß die vom Winter noch gestählten weißlichen Schnäbel unserer Kämpen hell aneinander knappen, wenn sie sich an dem gewölbten Harnisch ihrer Brüste oder am Helme ihrer Scheitel versuchen, daß der Schlag der Flügel mit ihrem glänzenden Wappenfeld bei dem wirbelnden, echt finkenmäßigen Luftkampf laut erschallt wie einst die dröhnenden Schilder der vergangenen Geschlechter in Stahl und Eisen. Und über allem diesem schmettert der süße, stürmische Minnesang der Heinriche von Osterdingen und der Wolframe von Eschenbach zum Lobe der holden Frauen. Beglückt, wer sich die Gattin erobert im heißen Kampfe!“

Auf unserem Bilde S. 693 schauen wir im Vordergrund den Anfang eines solchen Minnestreites, der sich bei einem hitzigen Paare im Hintergrund schon in den heißesten Luftkampf verwandelt. Aber

  1. Vergl. Halbheft 16 dieses Jahrgangs.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 691. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_691.jpg&oldid=- (Version vom 12.4.2024)