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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Julia hing mit angstvollen Blicken an seinen Zügen; von droben klangen schwermüthige Melodien, es war eine Variation über das Lied „Ein Wanderbursch mit dem Stab in der Hand.“

„Es ist ein Lieblingsstück von Fritz,“ bemerkte Julia laut und setzte geräuschvoll die Teller zusammen. Und die alte glückselige Frau sprach leise die Worte der Dichtung nach, während sie die Hand des Mannes streichelte:

„So sehr auch die Sonne sein Antlitz verbrannt,
Das Mutteraug’ hat ihn doch gleich erkannt.“

„Aber anders siehst Du aus, als wie Du fortgingst, Frieder; hübscher bist Du geworden, so hübsch fast, wie Dein Vater war.“

Er erhob sich plötzlich, denn von droben ertönte jetzt der Faustwalzer.

„Nun schlaft wohl,“ sagte er, „wir sind alle müde. Auch bin ich noch nicht wieder so ganz auf der Höhe, morgen erzähle ich mehr. Hilf mir den Mantel umlegen, Julia, und dann, Gute Nacht! Den Weg weiß ich ja noch.“

„Nein, ich komme mit,“ wehrte sie. Und zusammen schritten sie durch die verschneiten Gartenwege.

„Also eine Thür ist jetzt hier,“ murmelte er. Und als wollte er gewaltsam alle Erinnerungen abschütteln, sprach er laut: „Die alte Frau ist recht hinfällig geworden – Ach, grüß’ Gott – Herr Krautner! Freut mich, daß Sie mir gastlich Ihr Haus öffnen; wie ist’s Ihnen gegangen?“

Julia, die bei der Begrüßung der beiden sofort umgekehrt war, hörte noch, wie der alte Herr sagte. Willkommen, Herr Lieutenant! Nun, wie geht’s, wie steht’s? Haben sie sich auch, wie ich Ihnen beim Abschied empfahl, ein paar solide Träger in ihren lustigen Kopf eingezogen? Ja? Na, das soll mich freuen. Nun treten Sie ein und lassen Sie es sich wohlgehen bei mir!“

Als sie zurückkam, war die Musik droben verstummt. Sie traf im Flure den Doktor, der eben aus seinem Studierzimmer trat.

„Sag’ mal, Unnütz,“ fragte er, „hab’ ich mich geirrt oder spielte Therese wirklich?“

„Ja, sie spielte.“

„Wunderlich!“ murmelte er. Dann wandte er sich noch einmal um. „Ist Dein Bruder glücklich eingetroffen?“

„Ja!“ erwiderte sie kurz und verschwand.

Oben im Boudoir fand der Doktor seine Frau aufgeregt hin und her gehend.

„Es ist gut, daß Du kommst,“ sagte sie, „ich habe so ein Angstgefühl, das muß wohl der Wind machen.“

„O Du kleine Weisheit!“ neckte er. „Draußen rührt sich kein Lüftchen; es schneit nur in großen dicken Flocken, damit Du zu Weihnachten Schlitten fahren kannst. Uebrigens, hast Du etwas gemerkt von dem Afrikaner?“

„Ich? Nein – was habe ich mit ihm zu thun?“ erwiderte sie hastig.

„Nun, sei nur nicht böse, es liegt doch keine Beleidigung in meiner Frage, Schatz!“

„So hab’ ich’s auch nicht gemeint.“

„Na also! Aber es freut mich, daß Du wieder einmal Klavier gespielt hast, liebes Herz.“

Sie antwortete nicht.


Nun war der junge Offizier bereits drei Wochen in der Heimath. Es ließ sich gar nicht leugnen, er hatte „Leben in die Bude“ gebracht, wie Doktor Roettger gut gelaunt zu seiner Frau sagte.

Die Abneigung der beiden alten Spielkameraden schien völlig geschwunden. Wenn sie sich auch nicht vor Zuneigung „aufaßen“, so war doch gegenseitige Achtung an Stelle der früheren Zurückhaltung getreten; jeder achtete im anderen den tüchtigen Mann, der für seinen Beruf alle Kräfte einsetzt. Das hochfahrende Gebahren des Lieutenants war einem liebenswürdigen bescheidenen Wesen gewichen, und des anderen Derbheit einer Milde, die ihren Ursprung in seinem häuslichen Glücke zu haben schien. Und so gab es jetzt gemüthliche Plauderstunden am Theetisch beim Doktor oben, zu denen sich die ganze Familie versammelte und wobei der Weitgereiste den Mittelpunkt bildete; es gab festliche Sonntagsbraten in der Krautnerschen Villa, und sogar die Frau Räthin hatte sich zu einer Kalbskeule aufgeschwungen.

Das Weihnachtsfest war vorübergegangen mit seinem Lichterglanz; droben im Eßzimmer des jungen Paares hatten reiche Gaben die Familie um den Tisch versammelt, und das Stimmchen des Kindes, das jauchzend vor Freude nach dem schimmernden Baum die Händchen ausgestreckt hatte, war beglückend in aller Ohren geklungen.

Selbst von Julias Brust war ein Druck gewichen, sie athmete freier jetzt; die Wunde, welche die schöne blonde Frau einst dem Herzen des Bruders geschlagen, schien völlig vernarbt, und Therese – ja Therese hatte weniger als je Ohren und Augen für jemand anders als für ihren Mann. Nie konnte Julia entdecken, daß die beiden, der Frieder und die Therese, auch nur einen Blick wechselten, der über das zwischen harmlosen Bekannten oder Verwandten übliche Maß von Vertraulichkeit hinausgegangen wäre. Sie standen auf dem Fuße gegenseitiger freundlicher Werthschätzung und verkehrten, als hätte nie dieser schöne blonde Kopf an seiner Brust gelegen, als hätte er nie den rothen Mund der reizenden Frau geküßt, als hätten nie ihre Augen die heißesten Thränen um ihn geweint.

Julia freute sich; aber sie staunte über diese Thatsache wie über etwas Unbegreifliches. Ob ihm das Herz nicht ein bißchen wehthat?

Fortsetzung folgt.


„Des Löwen Spur.“

Ein Blick auf die Geschichte von Bardowiek.


Vineta, die vom Meere verschlungene Wendenstadt mit ihren marmornen Palästen und güldenen Dächern, wem wäre sie nicht bekannt! Oder die über den Wellen stehen gebliebene nordische Trümmerstadt Wisby, wer hätte nichts von ihr gehört! Wie aber steht es um unser niedersächsisches Wisby, die alte Bardenstadt Bardowiek? Nur wenige wissen von ihr, und als am 28. Oktober 1889 zum siebenhundertsten Mal der Tag sich jährte, da Bardowiek von Heinrich dem Löwen zerstört wurde, weil es ihm in den Tagen seiner Acht die Thore verschlossen hatte, da haben nur wenige Zeitungen Bardowieks gedacht. Und doch kann es mit Stolz darauf hinweisen, daß es eines der ältesten, wenn nicht gar das älteste deutsche Gemeinwesen ist! Aber es liegt seit Jahrhunderten in Trümmern, dank der gar zu gründlichen Zerstörung sind nur wenige Spuren seiner einstigen Größe übrig geblieben, und unsere Forscher haben vielleicht zu wenig gethan, um das Dunkel zu lüften, das über diesen Ruinen schwebt.

Ja, ein märchenhaftes Dunkel liegt über dem Ursprung von Bardowiek, und wie gar oft, so hat auch hier geschäftige Phantasie des Wissens Lücke zu füllen sich bemüht. Alte Chronisten und mit ihnen auch Christian Schlöpken, dem wir die einzige Chronik von Bardowiek verdanken, sind nicht abgeneigt, es für eine phönizische Kolonie zu halten. Der Mindener Dominikanermönch Heinrich von Herford aber erzählt. „Zween aus denen 72 Jüngern Christi sind von dem heiligen Apostel Petrus in Teutschland gesandt, das Wort Gottes zu predigen. Der eine unter ihnen, nämlich Maternus, gen Trier an der Mosel; der andere, nämlich Egistus, nach Bardowick an der Elmenow, in Begleitung des Mariani, der sein Archediakonus gewesen; welche beyde auch zu Bardowick die Märter-Krone erhalten haben, und ruhen ihre Gebeine noch daselbst und zwar des Egisti seine am unbekandten Orte bey dem großen Altare zu St. Peter daselbst.“

Wenn also nach dieser Nachricht Bardowiek schon im ersten Jahrhundert n. Chr. Geburt bestanden haben müßte, so verlegt eine räthselhafte Inschrift im Dome seine Anfänge noch viel weiter zurück, nämlich 1065 Jahre nach Abraham und 250 Jahre vor Rom, das wäre rund das Jahr 1000 vor

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 782. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_782.jpg&oldid=- (Version vom 16.8.2022)