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Gotteshäusern der Tabernakel mit dem hochwürdigsten Gute ist, das ist in der Synagoge jener Ort, wo die Thora aufbewahrt wird: das Allerheiligste. Eine Mißachtung der Thora wäre es schon, wenn man Bücher der Propheten oder sonstige heilige Schriften auf dieselbe legen wollte. Der jüdische Geschichtschreiber Flavius Josephus erzählt, wie einmal ein römischer Soldat eine Thorarolle zerrissen habe. Hierüber seien die Juden so aufgebracht gewesen, daß sie in großer Menge zu dem damaligen Landpfleger Cumanus eilten, und sich erst dann beruhigten, als der Soldat zum Tod verurteilt und durch das Beil enthauptet wurde. [1]

Die Mischna, der erste Teil des Talmud, ist die Zusammenstellung jener Lehren, die Moses zur näheren Erklärung der ihm von Gott gewordenen und dem Volke schriftlich mitgeteilten Offenbarungen mündlich vorgetragen, aber nicht niedergeschrieben hat. Welchen Wert die Israeliten diesen Überlieferungen beilegten, dürfte daraus hervorgehen, daß der berühmte Rabbi Hillel, der um die Zeit Christi lebte, einen Heiden, der von ihm die Aufnahme in die jüdische Gemeinschaft durch die Anerkennung des schriftlichen, aber mit Ausschluß des mündlichen Gesetzes verlangte, abwies, indem er ihm zum Bewußtsein brachte, wie man selbst zum bloßen Lesen des schriftlichen Gesetzes der mündlichen Überlieferung vertrauen müßte. Da nämlich die hebräischen Worte nur mit Konsonanten ohne die dazu gehörigen Vokale geschrieben wurden, wie auch gegenwärtig die Thorarollen noch ohne Vokale gedruckt werden, so hat schon das bloße Lesen der Bibel eine fortlaufende Überlieferung unbedingt erfordert.

Wohl hat es auch unter den Juden Protestanten gegeben, welche die Überlieferung oder Erblehre verwarfen, gegen den Talmud, Mischna und Gemara, protestierten, aber sie sind bis auf die Sekte der Karaiten, die etwa noch viertausend Anhänger in Polen und Rußland zählt, wieder verschwunden, und auch diese mußten einzelne Überlieferungen beibehalten, weil sie wohl einsahen, daß sie dieselben zum Verständnisse der heiligen Schrift unmöglich entbehren konnten.

Die Gemara, der zweite Hauptteil des Talmud, enthält die von Schnellschreibern aufgezeichneten Vorträge, die von gesetzkundigen Männern in den Lehrhäusern der einzelnen Länder, wo Juden sich aufhielten, gehalten wurden; die Erklärungen, welche dieselben zu einzelnen Stellen der heiligen Schrift, die Entscheidungen, die sie über vorgelegte Gesetzesfragen gegeben haben. Die Kunstfertigkeit, schnell zu schreiben, scheint ein besonderer Vorzug eines Schreibers oder Schriftgelehrten gewesen zu sein; denn der gotterleuchtete Sänger des geistlichen Hochzeitliedes (Ps. 44) rühmt von sich selbst, „seine Zunge sei die Feder eines Schreibers, der flüchtig schreibt“, und Esdras wird gelobt, weil er ein schneller Schreiber im Gesetze Moses war, das Gott dem Volke Israel gegeben hat. (I. Esdr. 7, 6.)

Solche Lehrhäuser, in welchen die Israeliten zusammenkamen, um die Vorlesungen aus dem Gesetze und die an dieselben sich anschließenden Vorträge zu hören, scheint es schon in den ältesten Zeiten


  1. Die Beziehungen des Talmud zum Judentum von Rabbiner Samson Rafael Hirsch; Frankfurt a. M., Kauffmann, 1884, S. 4.
Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Frank: Die Kirche und die Juden. Manz, Regensburg 1893, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Kirche_und_Die_Juden.djvu/80&oldid=- (Version vom 31.7.2018)