positiven wie nach der negativen Seite hin jeder Feststellung; es ist eben gar nichts Physikalisches, Erfahrbares, sondern nur eine metaphysische Idee. Somit gibt in Wirklichkeit die Lorentzsche Theorie gar nicht an, wann sich ein Körper verkürzt, sondern stellt die Meinung darüber zuletzt völlig in das Belieben eines jeden, da eben jeder mit gleichem Rechte die absolute Bewegung jedes beliebigen Körpers behaupten oder bestreiten kann. Das Gleiche gilt von der Ortszeit. Wir können nach der Lorentzschen Theorie gar nicht wissen, ob einem System jene Ortszeit zuzusprechen ist oder nicht, da das eben wieder von seinem Zustande absoluter Bewegung oder absoluter Ruhe abhängig sein soll. Die Lorentzsche Lehre ist also ihrem begrifflichen Kerne nach reine Metaphysik, nicht anders als die Schellingsche oder Hegelsche Naturphilosophie. Und wenn sie trotzdem praktisch brauchbar ist, so liegt das an demselben Umstand, der auch die Newtonsche Mechanik in der Praxis begünstigt: statt der absoluten Bewegungen werden die Bewegungen relativ zum Fixsternsystem untergeschoben, und für diese Substitution haben die Formeln ihre Geltung. Das heisst aber doch im Grunde nur: überall, wo die Anhänger jener Theorie sie wirklich anwenden, unterscheiden sie sich in ihrem tatsächlichen Verhalten in nichts von ihren Gegnern, den Relativisten, sind sie also Relativisten. Was soll dann also noch die völlig zwecklose und physikalisch sinnlose Behauptung von der absoluten Bewegung und dem absolut ruhenden Aether? Es ist Naturphilosophie von der historisch berüchtigtsten Art, nur geeignet, die Physik zu einem Hindernis für die Entwicklung einer vollen und einheitlichen Weltanschauung zu machen, in der das Biologisch-Psychologische genau so gut zu Worte kommen muss wie das Physikalische. An diesem Festhalten am Absoluten sehen wir denn auch diejenigen absolutistischen Physiker, die sich um eine vollständige Weltanschauung bemühen, scheitern: sie verfallen fast unabwendbar dem Vitalismus[1]).
9. Einstein fasste von vornherein den Michelsonschen Versuch relativistisch auf. Seine Abhandlung von 1907 überschreibt er: „Ueber das Relativitäteprinzip und die aus demselben gezogenen Folgerungen[2]).“ Er spricht dort von der Lorentz-Fitzgeraldschen Kontraktionshypothese und fährt dann wörtlich fort: „Diese ad hoc eingeführte Annahme erschien aber doch nur als ein künstliches Mittel, um die Theorie zu retten; der Versuch von Michelson und Morley hatte eben gezeigt, dass Erscheinungen auch da dem Relativitätsprinzip entsprechen, wo dies nach der Lorentzschen Theorie nicht einzusehen war“[3]). Diese ganz zweifellose Stellung
Joseph Petzoldt: Die Relativitätstheorie der Physik. , Berlin 1914, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Relativit%C3%A4tstheorie_der_Physik.djvu/10&oldid=- (Version vom 7.6.2024)