als ob man nicht auf genügend festem Boden stünde. Es wird ja auch oft genug geklagt, dass die neue Lehre die Anschaulichkeit vermissen lasse, und es sind verschiedene Versuche gemacht worden, diesem Mangel abzuhelfen, ohne dass damit doch alle Forderungen, die gestellt werden müssen, erfüllt würden[1]).
Dass die Forderung der anschaulichen Darstellung der Grundlagen der Relativitätstheorie überhaupt gerechtfertigt ist, kann nicht bezweifelt werden. Denn es handelt sich um räumlich vollkommen bestimmte Vorgänge, also um ‚anschauliches‘ Geschehen. Die ganze Schwierigkeit liegt wohl nur darin, dass man bei den Versuchen, sich die einzelnen Vorgänge ‚anschaulich‘ zu machen, leicht vergisst, die beiden Standpunkte auseinanderzuhalten, von denen aus die Theorie die Dinge betrachtet. Sie schwindet aber, wenn man jeweilig den Standpunkt des ‚ruhenden‘ oder des ‚mitbewegten‘ Beobachters folgerichtig festhält und nie zu beachten unterlässt, dass jeder dieser Beobachter die Vorgänge im anderen System mit anderem Raum- und Zeitmass misst, als es der Beobachter des anderen Systems tut. Die ‚Anschauung‘ ist hier eben nicht, wie es in der bisherigen Physik meistens der Fall war, nur eine, sondern sie ist doppelt, und die Verdoppelung betrifft nicht nur das Räumliche, sondern auch das ‚Zeitliche‘. Damit wird die ‚Anschaulichkeit‘ allerdings erschwert, aber nur wegen der grösseren Verwicklung der Verhältnisse, nicht weil sich neue prinzipielle Schwierigkeiten erhöben. Wenn man sich vom Prinzip des Absoluten erst einmal völlig losgemacht hat, dann ist der Weg von prinzipiellen Hindernissen frei.
Das freilich scheint einer sehr grossen Zahl der heutigen Naturforscher noch immer das Schwierigste zu sein: die alte
Joseph Petzoldt: Die Relativitätstheorie der Physik. , Berlin 1914, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Relativit%C3%A4tstheorie_der_Physik.djvu/31&oldid=- (Version vom 6.6.2024)
- ↑ Am gelungensten scheint mir die Darstellung von La Rosa zu sein (Der Aether, Leipzig 1912, namentlich S. 94-111). Indessen werden hier die zeitlichen Beziehungen vor den räumlichen behandelt und die letzteren aus den ersteren abgeleitet, während der historische Weg umgekehrt war, auch näher gelegen und nicht minder einfach darzustellen ist. Ausserdem dürfte die Fingierung des sich verwundernden absolut ruhenden Beobachters und die späte Einführung der völligen Gleichberechtigung der gegen einander bewegten Seine dem wahren Verständnis doch hinderlich im Wege sein, wenn dieses Vorgehen des Verfassers auch durch seine besondere pädagogische Absicht bedingt ist. Meine eigene Darstellung zeigt — soweit sie die rein naturwissenschaftlichen Verhältnisse betrifft (erkenntnistheoretische Untersuchungen stellt der Verfasser nicht an) — mit der von La Rosa eine gewisse Verwandtschaft, war aber bereits abgeschlossen, als ich jene kennen lernte. Ueber die Darstellung von Gruner vgl. die Bem. auf S. 28. Sehr interessant ist das Modell E. Cohns („Physikalisches über Raum und Zeit“, Teubner 1911. Vgl. auch: Physikal. Zeitschr. 1912). Doch ist hier wohl Unmögliches versucht worden. Zwar gelingt es, an dem sinnreichen Apparat zu zeigen, dass von jedem der beiden gegen einander bewegten Systeme aus eine Länge im anderen als kürzer beurteilt wird, als dies von dem ‚mitbewegten‘ Beobachter geschieht; aber es wird — obwohl es doch genau so nötig gewesen wäre — nicht gezeigt, dass von jedem der beiden Systeme aus die Uhren des anderen nicht synchron sind, dass es aber stets die eigenen sind. Und das kann nicht zur mechanischen Darstellung gebracht werden, weil es sonst auch möglich sein müsste, die beiden gegen einander bewegten Räume als Teile eines dritten, absoluten Raumes, als in einen solchen Raum eingebettet zu denken (vgl. o. S. 21 f. und S. 13.)