Hypothese mit dem experimentellen Befund bis jetzt durchaus im Einklang. Und im übrigen enthält jede physikalische Theorie hypothetische Elemente (vgl. o. S. 23). Die Newtonsche Gravitationstheorie steht und fällt mit den Keplerschen Gesetzen: diese aber sind im Grunde nicht anders hypothetisch, als es die Einsteinsche Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ist; sie sind Annäherungen, die allen bisher vorliegenden Erfahrungen hinreichend entsprochen haben, die aber durch künftige Erfahrungen modifiziert, wenn nicht umgestossen werden können. Es ist ein verhängnisvoller Irrtum Kants, dessen Erkenntnis allein schon sein ganzes System zum Wanken bringen muss, wie er ein helles Schlaglicht auf die Motive seines Denkens wirft, auf seine gefährliche Neigung, die Dinge nach dem Denken zu richten: „dass kein ander Gesetz der Attraktion als das des umgekehrten Quadratverhältnisses der Entfernungen zu einem Weltsystem als schicklich erdacht werden kann“[1]) — was doch schon durch das Webersche Gesetz widerlegt wird. Somit unterliegt es keinem Zweifel, dass alle ‚Naturgesetze‘ nur hypothetische, konditionale Sätze sind von der Form: nur so weit gilt, gilt auch ; wie weit aber gilt, darüber entscheidet ganz allein die Erfahrung. Und in dieser Hinsicht besteht also zwischen der Einsteinschen Theorie und allen früheren physikalischen Theorien durchaus kein Unterschied. ‚Reine‘ Tatsachen sind ein Ideal: die Wirklichkeit hat es immer nur mit mehr oder weniger weit gehenden Annäherungen zu tun; auch hier gibt es keine absolute Grenze. Mit alledem wird aber natürlich die wichtige erkenntniskritische Aufgabe nicht umgestossen: den in den mathematischen Ausdrücken eingeschlossenen naturwissenschaftlichen Inhalt herauszupräparieren; nur dass wir eben uns bescheiden und vor dem Gedanken hüten, als handele es sich um absolute statt nur um möglichst weit getriebene relative Annäherung an ‚reine Tatsächlichkeit‘.
26. Die Beobachtung, dass mathematische Theorien experimentell festgestellter tatsächlicher Zusammenhänge zu Formeln führen, die wir nicht mehr ohne weiteres als den Ausdruck für tatsächliche Verhältnisse empfinden, können wir öfter machen — überall da, wo wir die ‚Anschaulichkeit‘ vermissen. Wie das möglich ist, wie man zu einer brauchbaren und fruchtbaren Theorie gelangen kann, ohne ihre tatsächlichen Unterlagen voll zu durchblicken, das kann man auch an der neuen Relativitätstheorie gut erkennen.
Wie aus Einsteins Ableitung sich ergibt, sind ihre Grundgleichungen die mathematisch notwendige Folge der Voraussetzung der universellen Konstanz der Lichtgeschwindigkeit und der Einführung zweier gegen einander gleichförmig und geradlinig bewegter zweckentsprechend orientierter Systeme, deren Raum-
Joseph Petzoldt: Die Relativitätstheorie der Physik. , Berlin 1914, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Relativit%C3%A4tstheorie_der_Physik.djvu/33&oldid=- (Version vom 7.6.2024)
- ↑ Kant, Prolegomena, § 38.