‚Naturgesetze‘ der Veränderung von System zu System unterwerfen — natürlich der ‚gesetzlichen‘ oder der ‚naturgesetzlichen‘ Aenderung, genau wie in der Einsteinschen Lehre die Körpergestalt und der Uhrgang der ‚gesetzlichen‘ oder ‚naturgesetzlichen‘ Aenderung von System zu System unterliegt. Wir sehen die Willkür in der Einsteinchen Auffassung des ‚Naturgesetzes‘.
Daraus geht wohl deutlich hervor, dass der Unterschied, der in der Einstein-Minkowskischen Theorie noch immer zwischen den räumlich-zeitlichen Bestimmungen einerseits und den ‚Naturgesetzen‘ anderseits gemacht wird, nicht aufrecht zu erhalten ist. Die beiden Gruppen von Bestimmungsmitteln müssen vielmehr ganz gleichberechtigt behandelt werden, als Glieder einer einzigen Begriffsgruppe, der der physikalischen Bestimmungsmittel überhaupt, wie sie überall in den physikalischen Gleichungen seit jeher völlig gleichartig neben einander gestanden haben und ihre Masszahlen in der Physik stets durchaus auf prinzipiell gleiche Weise gewonnen worden sind. Jene Trennung ist nicht durch die Sache selbst geboten, sondern durch die Geschichte bedingt. Die Platonische Auffassung der Geometrie — die natürlich durch die Platon vorhergehende Entwicklung veranlasst war und von ihm nur verschärft wurde —, als Korrelat dazu die Degradierung, die Platon mit der ‚Materie‘, der ‚Natur‘ vornahm, und weiter die Bestätigung und Steigerung, die diese Auffassungen in der Kantischen Philosophie durch die Trennung der ‚Anschauungsformen‘ des Raumes und der Zeit von den ‚Kategorien‘ und entsprechend der ‚reinen‘ Mathematik und Naturwissenschaft von der ‚angewandten‘ erfuhren, das dürften die hauptsächlichen Momente sein, die sich noch immer als recht beträchtliche Hindernisse einer natürlichen Auffassung und einem noch freieren Schalten mit den ‚Mitteln des Denkens‘ in den Weg stellen.
33. Unsere Ueberlegungen eröffnen uns zugleich einen Blick auf die künftige Entwicklung der physikalischen Theorie. Sie kann unmöglich mit Umgehung der Relativitätstheorie erfolgen. Das wäre gegen den ganzen geschichtlichen Verlauf, der uns, etwa von Descartes ausgehend, in gerader Linie über Locke, Berkeley, Hume zu Mach und der modernen Physik führt. Wie wir gezeigt haben, enthalten die Formeln der modernen Relativitätstheorie die Aufhebung des prinzipiellen Unterschieds zwischen den optischen und den taktilokinästhetischen Merkmalen der Vorgänge, also die Bestätigung der Hauptleistung Berkeleys. Das kann nicht wieder rückgängig gemacht werden. Wollen wir also weiter, so müssen wir durch die gegenwärtige Phase der Relativitätstheorie hindurch zu einer noch souveräneren Beherrschung der begrifflichen Bestimmungsmittel vordringen und im besonderen den unberechtigten Gegensatz der raumzeitlichen Merkmale zu allen übrigen physikalischen Bestimmungsmitteln überwinden.
Wir sehen auch, wie wichtig dem theoretischen Physiker und dem Mathematiker erkenntnistheoretische Studien werden können. Jeder von ihnen hat — er mag es wissen oder nicht und zugeben oder nicht — eine erkenntnistheoretische Auffassung
Joseph Petzoldt: Die Relativitätstheorie der Physik. , Berlin 1914, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Relativit%C3%A4tstheorie_der_Physik.djvu/41&oldid=- (Version vom 6.6.2024)