Ihre Wohnung haben sie in allen Gewässern, von dem großen Meere bis zum stillen Dorfteiche und von den reißenden Strömen bis zum plätschernden Bächlein und plaudernden Quell hinab, sogar in bloßen Brunnen sind sie zu finden. Sie besitzen krystallene Paläste mit ungeahnter Pracht, wohin sie oft menschliche Hilfe, am meisten Hebammen, erbitten. Hier sind auch große Schätze aufgespeichert, mit denen sie ab und zu einen Menschen beglücken, meistens allerdings in irgend einer am wenigsten mit Schätzen Ähnlichkeit habenden Gestalt, vielleicht einem sich später in Gold verwandelnden Erlenstrauch, mit Laub, einem Bunde Stroh u. a.
Gesang, Spiel und Tanz ist die größte Leidenschaft der weiblichen Nixen, ihre Musik ist wunderbar ergreifend und rührend und führt, wenn man sich verlocken läßt, unrettbar zum Tode in die kühle Flut. Man denke an die Lorelei: das hat mit ihrem Singen die Lorelei getan – und an Goethes Fischer: halb zog sie ihn, halb sank er hin und ward nicht mehr geseh’n. Oft wird der Nixensang als wehmütiges, melancholisches Klagen gedeutet. Die Sage sagt, die Nixen haben keine Seelen, und nun jammern sie, daß sie keine Menschen sind. Um zu singen und zu tanzen, kommen sie oft in fröhliche Menschengesellschaft, müssen dann aber zu bestimmter Zeit wieder fort. Wenn sie diese Zeit verfehlen, sind sie unrettbar dem Tode verfallen; das Wasser färbt sich blutrot, sobald sie sich hinabretten, und doch hält sie auch in diesem Falle nichts zurück.
Auch die weiblichen Nixen sind den Menschen dienstbar, oder verrichten auch für sich menschliche Arbeiten. So kommen sie nach oben, um am Uferrande zu spinnen. Oft erscheinen sie als Wäscherinnen und klopfen und schlagen Leinen zu nächtlicher Stunde. Man sagt auch, das, was wie Leinen aussehe und was sie schlagen, seien Kindesleichen. Zuweilen hängen sie Leinwand und Fetzen zum Trocknen auf oder sind im menschlichen Haushalte beim Geschirrwaschen und Reinigen des ganzen Hauses tätig. Werden sie für ihre Tätigkeit belohnt, so verschwinden sie.
Viele Nixen verlangen jährlich ein Menschenopfer, das sie ahnungslos in die Wellen hinabziehen und dort Hochzeit mit ihm halten, aber auch wohl martern und quälen, so daß man sein Jammern und Stöhnen noch lange hören kann. Wer eine Nixe beleidigt oder ihr etwas zu Leide tut, wird
Karl Wehrhan: Die Sage. Wilhelm Heims, Leipzig 1908, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Sage-Karl_Wehrhan-1908.djvu/80&oldid=- (Version vom 31.7.2018)