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Walther Kabel: Die Tiere im Volksglauben. In: Bibliothek für Alle, 4. Jahrgang, 7. Bd., S. 88–91

daß sie auf den von den christlichen Bekennern errichteten Kreuzstangen einen Hahn befestigten. Die Christen schoben diesem Zeichen die Deutung unter, daß der Hahn eine Erinnerung an jenen Hahn sei, der bei Petri Verleugnung gekräht habe.

Daß viele Menschen mechanisch die Eierschale nach dem Genusse des Eies zerbrechen, führt auf den Glauben der Vorzeit zurück, daß die Hexen Gift in die Schalen tröpfeln; und wie die Märchen von den goldenen Eiern das fernste Heidentum streifen, so erhielt sich das uralte Symbol des Eies als Zeichen der Fruchtbarkeit in den Ostereiern, die durch den Wechsel der Jahrhunderte hindurch sich bis heute erhielten.

Auch der Eber galt den heidnischen Germanen als Zeichen der Fruchtbarkeit. Er war der Hertha beigesellt und wurde am Tage der Sommerwende geopfert. Der Rest jenes Brauches erhielt sich in jenen Pfefferkuchen, die die Gestalt eines Ebers zeigen. Die Spinne, die dem Tierkreis der Frigga angehört, die als Beschützerin der Häuslichkeit galt, bringt noch immer Glück. Noch heute vermeiden es viele Menschen, eine Kreuzspinne zu zertreten, ganz mechanisch, ohne zu wissen, daß die Vorfahren die Spinne deshalb schonten, weil sie in Kreuzform das Abzeichen des Hammers Donars, das vor dem Blitzschlag schützen soll, auf dem Rücken trägt.

Der Volksglaube sagt auch, daß jedes Haus vor Feuer und Blitz verschont bleibe, auf dem ein Storch niste. Galt doch auch der Storch als Tier des Donar, als Frühlingsbote und Freudenspender.

Gewissermaßen haben alle diese alten Bräuche ihr Recht. Sie sind der letzte Niederschlag des uralten Gefühlslebens einer kulturgeschichtlich interessanten Vergangenheit. In ihnen spiegelt sich der Reichtum der Phantasie wider, den die Vorfahren besessen, mit denen sie manche Rätsel lösten, die die Natur ihnen gab.

Es ruht ein eigenartig poetischer Reiz auf den letzten Resten einer längst verwehten Vergangenheit, in dem Gedanken, daß auch wir noch heute manches in dem Lichte sehen, in dem unsere Vorfahren das Lehen der Tiere geschaut.

W. K.
Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Die Tiere im Volksglauben. In: Bibliothek für Alle, 4. Jahrgang, 7. Bd., S. 88–91. Verlag der Bibliothek für Alle, Dresden 1912, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Tiere_im_Volksglauben.pdf/6&oldid=- (Version vom 31.7.2018)