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der Welt ließen ihn gleichgiltig, keinem von ihnen hat er wie z. B. Tizian seine Freiheit und noch weniger seine Würde geopfert. So ungefähr schildert ihn uns Vasari, und ich denke, daß sein Bildniß damit getroffen sei.

Leider sind, wie schon gesagt, die Werke des Giorgione äußerst selten. Es sind überwiegend s. g. Cabinetsstücke; Kirchenbilder scheint er nur ausnahmsweise gemalt zu haben. Der Anonymus des Morelli zählt im ganzen nicht mehr als etwa ein Dutzend Bilder von Giorgione auf, die zu seiner Zeit, d. h. zwischen 1512 und 1540, in Venedig sich befunden; ein zweites Dutzend beschreibt Vasari beiläufig, und eine gleich große Zahl glaube auch ich nachweisen zu können. Nun rathe ich meinen jungen Freunden, dieselben entweder aufzusuchen oder doch wenigstens Photographien davon sich zu verschaffen; denn einem Meister wie Giorgione sollte ein Kunstbeflissener täglich in’s Gesicht schauen, damit er den Geist und die Formen dieses feinsten aller Venezianer nach und nach ganz in sich aufnehme. Ich werde nun chronologisch die Werke aufzählen, welche jedem zugänglich sind und meiner Ansicht nach dem Giorgione angehören.

1. Die s. g. Feuerprobe und das Urtheil Salomon’s sind wohl die ältesten Werke, die von ihm auf uns gekommen sind. Diese zwei höchst interessanten Jugendbilder des Meisters befinden sich in der Uffizigalerie zu Florenz (No. 621 und 630), sie gehören noch in’s 15. Jahrhundert, und Giorgione mag dieselben etwa in seinem 16. oder 18. Jahre gemalt haben. Die für ihn charakteristischen Züge finden wir sämmtlich schon in denselben vertreten, nämlich das längliche Oval der Frauengesichter, die etwas nahe an die Nase gerückten Augen, die phantastische Art, die Figuren zu kleiden, die Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger darzustellen, die poetischen landschaftlichen Gründe mit den hochstämmigen Bäumen u. s. f.

2. Ein „kreuztragender Christus“, Brustbild auf Holz. Dieser scharfblickende Kopf, der leider durch Restaurationen

Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 188. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/207&oldid=- (Version vom 31.7.2018)