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Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin

in der einen Provinz schärfer, in der andern schwächer ausgeprägte Physiognomie der verschiedenen Malerschulen Italiens kann man begreiflicherweise nicht in Pinakotheken kennen lernen und studiren, da diese Sammlungen doch meist nur auf eklektischem Wege zu Stande gekommen sind. Man muß ihr vielmehr in dem Lande selbst nachgehen, aus dem sie herausgewachsen, mit dem sie also im innigsten organischen Zusammenhange steht; war doch nirgends in der Welt die Malerei so sehr Volksprache wie in Italien. Die Literatur der Italiener hat aus verschiedenen Ursachen, die hier auch nur anzudeuten nicht der Ort wäre, niemals zu einer volksthümlichen sich zu entwickeln vermocht, die bildende Kunst hingegen ist durch nichts in ihrem vollkommenen Wachsthume gestört worden, ist durch und durch volksthümlich geblieben; sie ist als ein lebendiger Organismus aus dem heimatlichen Boden herausgewachsen und spricht auch allenthalben die Sprache des Volkes, d.h. den Dialekt. Und dieses Verhältniß der Laut- zur Zeichensprache, oder, deutlicher gesagt, zwischen der gesprochenen und der gemalten oder gemeißelten Sprache, zwischen der Form, in der derselbe Geist in der Lautsprache, und der Form, in der er sich in der Sprache der Kunst ausdrückt und vernehmen läßt, ich sage dies Verhältniß der einen zur andern Ausdrucksweise ist nicht etwa äußerlicher, sondern ursächlicher Natur.

Man kann diese heimische Kunstsprache im Venezianischen, wo sie nicht, wie anderswo durch die Fremdherrschaft der Spanier auf Abwege geführt und ihr ein unnationales Gepräge gegeben wurde, vom dreizehnten Jahrhundert bis zu Tiepolo, Canaletto und Longhi herab, vom Keime also bis zu ihrem endlichen Absterben, in ihrer organischen Entwickelung verfolgen. Canova und David, Carstens und Cornelius haben doch wahrlich nicht, wie die meisten glauben und wie dieß auch Kaulbach auf der Seitenmauer der neuen Pinakothek von München dargestellt hat, die Kunst der Zopfzeit todtgeschlagen; diese ist

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Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/23&oldid=- (Version vom 31.7.2018)