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Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin

eines natürlichen Todes gestorben und war daher schon längst todt, als die obengenannten Herren die sogenannte neue Kunst gründeten.

Diese Dialektsprache der Kunst kann man aber, wie schon bemerkt, nur im Lande selbst, an Ort und Stelle studiren und kennen lernen: in abgelegenen Dorfkirchen, an Frescomalereien auf Häuser-Façaden oder auf den Innenwänden von Bauernhäusern u. s. f. Wer z. B. Bergamo besucht mit den herrlichen Thälern des Serio und des Brembo, der wird dort noch gar manches Gemälde aus der Schule der Boselli, der Gavazzi, der Scipioni von Averara finden, wird daselbst noch auf manche Wandmalereien stoßen, die in die erste Hälfte des XV. Jahrhunderts gehören, und er wird in jenen Gestalten, in jenen Darstellungen überall demselben Charakter begegnen, den er in den Gestalten und Geberden der Leute auf der Straße, den er selbst in deren Idiom ausgedrückt findet, nämlich dem Charakter eines rüstigen, einfachen, energischen Bergvolkes, das aber nicht immer Feinheit und Anmuth mit der ihm angebornen Kraft und Rüstigkeit zu vereinen weiß. Denselben Grundzug wird er nun, wiewohl etwas gemäßigt und verhüllt, auch in den Werken derjenigen Bergamasken Maler und Bildhauer wiedererkennen, die jung schon aus ihren heimatlichen Thälern in die Hauptstadt Venedig zur weitern Ausbildung geschickt wurden, wie z. B. Palma vecchio, Previtali, Cariani, die beiden Santa-Croce u. a. m.

Das eben Gesagte gilt ganz allgemein für die Entwicklungsgeschichte aller Kunstschulen Italiens, nur wird man bei den Schulen der weniger kunstbegabten Volkstämme manche Lücke antreffen, zumal in der Uebergangsperiode von der heroischen Kunstepoche, d. h. der Giottesken, zur wissenschaftlichen d. h. zu der Epoche, in der das Studium der Linienperspektive, und somit der realen Natur, aufkommt. Die florentinische Kunstschule ist in dieser wie auch in anderer Beziehung die am vollständigsten entwickelte

Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/24&oldid=- (Version vom 31.7.2018)