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gemalt habe, hätte, so frage ich, dieser geist- und anmuthvolle Florentiner je diese miniaturartigen Bäumchen, diese Häuserchen und Thürmchen im Hintergrunde des Bildes, welche man mit dem Vergrößerungsglase sich anschauen muß, um sie vollkommen zu würdigen, hätte er diese Haare und Härchen am Kopfe der Maria, diese harten, steifen Umrisse am Körper des Christkindes zuwege gebracht? Ich zweifle sehr daran, daß ihm dies auch beim besten Willen gelungen wäre, und vor mir schon, denke ich, wird manch’ anderer Kunstforscher und Kenner des Leonardo solche Bedenken gehegt haben[1]. Lassen wir jedoch diese haarspaltende Kritik beiseite, da der Punkt, auf den es mir eigentlich ankam, durch geistige wie materielle Gründe darzuthun, daß dieses miniaturartige Madonnenbildchen, so werthvoll dasselbe auch denjenigen erscheinen muß, welche z. B. die Gemälde eines Christophsen und seinesgleichen lieben, auf keinen Fall dem Lionardo da Vinci zugemuthet werden dürfe, wie mir scheint, zu meinen Gunsten entschieden ist[2].

Ueber das andere, dereinst zu Dresden ebenfalls dem Leonardo da Vinci zugeschriebene Madonnenbild, No. 33, habe ich meine Meinung bereits ausgesprochen.

Die übrigen kleinen, meist auch verdorbenen Bilder toskanischen Ursprungs in dieser Galerie, welche wenigstens


  1. Die Herren Cr. und Cav. scheinen jedoch dieses Bildchen für eine Jugendarbeit Leonardo da Vinci’s wirklich anerkennen zu wollen: this picture is indeed one which recals Verocchio’s pupil after he had left the master’s atelier, thongh in colour and execution inferior even to his creations (Vol. II, 410).
  2. Man vergleiche dieses s. g. Leonardische Jugendbild mit der etwa um 1470 gemalten „Verkündigung“ des Francesco Cossa (No. 18), und man wird leicht die Verschiedenheit in der technischen Behandlung zwischen einem Italiener und einem Niederländer dabei wahrnehmen. Auch das Werk des Cossa ist mit der größten Sorgfalt und Feinheit ausgeführt, jedoch nicht miniaturartig, wie dies die Weise fast aller alten Niederländer ist, deren Werke vielleicht doch nur Miniaturmalereien in vergrößertem Maßstabe sind.
Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 243. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/262&oldid=- (Version vom 31.7.2018)