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der Federzeichnung des P. Perugino gemacht haben, welche Raffaelische Kopie in der Sammlung von Lille sich vorfindet (No. 46 des Braun’schen Katalogs[1]). Raffael hat in seinem Bilde den h. Hieronymus und den Engel weggelassen, welche auf der Handzeichnung hinter der Madonna stehen, und dafür zur bessern Raumausfüllung des Tondo zur Linken der Jungfrau einen Putto gesetzt[2].


  1. Diese sehr interessante, skizzenhaft hingeworfene Zeichnung, Schwarzkreide und Gips, rathe ich allen meinen jungen Freunden sich zu verschaffen, um sie zu ihrer Belehrung mit der Federzeichnung von Meister Perugino zusammenhalten und vergleichen zu können. Solche Studien dürften mehr als alle gedruckten Auseinandersetzungen zur innigern Bekanntschaft mit dem Wesen Raffael’s verhelfen.
  2. Merkwürdigerweise hielt sich Raffael bei Ausführung seines Bildes mehr an die Originalzeichnung seines Meisters denn an die von ihm modifizirte Nachbildung. Im Gemälde sind nämlich folgende Modificationen der Peruginischen Originalzeichnung von Raffael eingeführt worden: die Lage und Geberde des Christkindes ist natürlicher, lebendiger und feiner in den Linien als in der Zeichnung des Perugino; der linke Fuß des Christkindes liegt im Bilde über dem rechten, in der Zeichnung stößt das rechte Füßchen unschön an den Knöchel des linken, die harte Linie, die vom Nacken des Jesuskindes bis zur Fußspitze seines linken Fußes läuft, ist im Bilde geändert, wodurch die Bewegung des Körpers an Anmuth gewonnen hat. Die Stellung des linken Armes und der beiden gespreizten Kniee der Jungfrau, in der Zeichnung des Perugino hart und unschön, ist im Bilde sinnig modifizirt; auch die Kopfbewegung der Jungfrau ist im Bilde würdiger, weniger sentimental und süßlich denn in der Zeichnung; ihr linker Arm mit der nichtssagenden Handgeberde und dem steifen Mantel darüber ist im Bilde ebenfalls vortheilhaft geändert u. s. f. Es muß hier noch bemerkt werden, daß die bewußte Federzeichnung des Perugino in der Sammlung, in der sie sich befindet, dem Raffael zugeschrieben wird. Ich denke jedoch, daß jeder feinere Kenner von Handzeichnungen mir zugeben wird, daß dieselbe alle Kennzeichen aufweise, nach welchen die Federzeichnungen des Pietro Perugino von denen seiner Schüler und Nachahmer unterschieden werden können. Ich will hier nur folgende bezeichnen: die Form des Ohres und der Hand; welche wohl die des Perugino aber keineswegs die des jugendlichen Raffael ist; die dem Pietro eigenthümliche schlauchartige Form des Bauches in der Figur des Christkindes, sowie der Gesichtsausdruck desselben; die harten, leblosen Umrisse sowohl beim Christkinde als beim kleinen Johannes; die tiefschwarzen Schatten, namentlich am linken Backen des h. Hieronymus. Die bauschigen Querfalten auf dem linken Knie der Jungfrau und am Hemdchen des kleinen Johannes sind dieselben, welchen wir in den Federzeichnungen des Perugino und auch in denen des Pinturicchio zu begegnen gewohnt sind, nie aber bei Raffael.
Empfohlene Zitierweise:
Giovanni Morelli (Pseudonym Ivan Lermolieff): Die Werke italienischer Meister in den Galerien von München, Dresden und Berlin. Verlag von E. A. Seemann, Leipzig 1880, Seite 375. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Werke_italienischer_Meister_(Morelli).pdf/394&oldid=- (Version vom 31.7.2018)