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Walther Kabel: Die gelbe Gefahr (Reclams Universum, Jahrgang 33)

Die gelbe Gefahr.
Humoreske von Walter Kabel.

Ich beobachtete verstohlen die Gesichter unserer Damen und Herren, die alle mit gespanntester Aufmerksamkeit der Erzählung unseres liebenswürdigen Gastgebers, eines alten Oberförsters, gefolgt waren. Diese Erzählung war eine jener berüchtigten Jagdgeschichten, wie sie verwitterte Grünröcke nur zu gern dem stets dankbaren, ahnungslosen Großstädter auftischen. Der Oberförster, der sehr wohl wußte, daß die meisten von uns einen Rehbock nur im Tiergarten und eine Büchsflinte allerhöchstens in dem Schaufenster einer Waffenhandlung gesehen hatten, glaubte uns sein Jägerlatein ohne Scheu in vermehrter und verbesserter Auflage vorsetzen zu können. Die Pointe seiner mehr wie unverschämt erfundenen Geschichte lief darauf hinaus, daß er nach einem Fehlschuß auf einen Kapitalbock vor dem ihn „annehmenden“ Tiere flüchten und schließlich sogar eine dürre Eiche erklettern mußte, wo ihn der Bock dann mehrere Stunden lang belagerte, da er auf der Flucht seine Büchsflinte – verloren hatte!

Selbst mein Kollege, der Assessor Körber, ein großer Nimrod vor dem Herrn – was allerdings dem Oberförster unbekannt war –, schien der mit großer Routine vorgetragenen Münchhausiade vollen Glauben zu schenken. – Es schien aber nur so! Denn jetzt trafen sich unsere Blicke, und gleichzeitig zogen wir beide vielsagend die Augenbrauen hoch. Das hieß nichts anderes als: Himmel, war das wieder einmal aufgeschnitten!

Aber Körber schwieg und überließ es den anderen, den innerlich sicher hohnlachenden Weidmann nach interessanten Einzelheiten auszufragen.

Wir saßen im Garten der Oberförsterei um einen großen runden Tisch, der von einer breitästigen alten Buche völlig überschattet wurde. Es war ein heißer Sommernachmittag; die Blätter der Bäume bewegten sich nur träge in dem kaum fühlbaren Luftzuge, die Hunde rekelten sich faul in der Sonne, und selbst das sonst stets mobile Hühnervolk hockte untätig im Schutze einiger Brombeersträucher, die an der Mauer des Stallgebäudes üppig wucherten.

Als das allgemeine Gespräch über den sonderbaren Jagdunfall des Oberförsters abzuflauen begann, sagte mein Kollege Körber in etwas geringschätzigem Tone: „Ihre Erzählung, Herr Oberförster, war ja zweifellos sehr spannend und – das Erlebnis für Sie immerhin mit einiger Gefahr verbunden. Aber in wirklicher Lebensgefahr schwebten Sie doch nicht. Denn – was hätte Ihnen der Rehbock antun können, selbst wenn Sie nicht die Eiche erklettert und dort Schutz vor seinem Gehörn gesucht hätten?! – Das schlimmste wären einige Löcher in ihrem Anzug und einige Schrammen in der Haut gewesen!“

Damit hatte Körber die Unterhaltung wieder in Fluß gebracht. Ihm wurde aufs lebhafteste widersprochen, besonders von den Damen. Er lächelte aber nur spöttisch vor sich hin, bis schließlich der alte Grünrock selbst eingriff und sagte: „Sie tun ja gerade so, bester Assessor, als wären Sie schon einmal in unserem harmlosen deutschen Walde den Klauen …“

„Bitte, Herr Oberförster,“ unterbrach Körber ihn, „ich bin allerdings in unserem harmlosen deutschen Walde in ernste Lebensgefahr geraten, aus der mich nur ein glücklicher Zufall rettete …“

„Bitte – bitte – erzählen!“ rief die kleine niedliche Frau Staatsanwalt v. Herhut sofort, und die anderen Damen baten ebenso eifrig. Körber zeigte auch hier seine stets bewiesene Galanterie. Er nickte Gewährung, tat noch einen langen Zug aus seiner Zigarette und warf dann den Rest hinter sich auf den grünen Rasen.

„Es sind jetzt genau neun Jahre her,“ begann er langsam, als wolle er erst die Erinnerung an jenes Erlebnis wach werden lassen. „Ich war damals als Referendar am Amtsgericht in X. beschäftigt, einem kleinen Städtchen in Westpreußen nahe der pommerschen Grenze. Da die Stadt mir nichts bieten konnte, benutzte ich meine freie Zeit um so eifriger zu längeren Ausflügen in die Umgegend, die mich bis in die kassubische Schweiz, nach Karthaus und den Radaunenseen führten. Ich bin seit meiner Militärzeit ein sehr guter Fußgänger; der langsame Schritt, die Übungsmärsche und das Manöver haben mir die überflüssige Bewegungsfaulheit gründlich genommen. So wollte ich denn auch am 15. Juni – es war ein Mittwoch, den Tag vergesse ich nie – um halb zwei Uhr nachmittags zu einer Fußtour nach dem am Chmelnosee gelegenen Dorfe Z. aufbrechen. Z. ist bekannt durch seine malerische Lage und seine „Unkultur“, die man dort noch ganz unverfälscht vorfindet. Unter anderem kann man dort z. B. noch die armen Kassuben in halb in den Berg eingebauten Erdhütten antreffen, ebenso ihre selten oder nie gewaschenen Kinder in adamitischen Kostümen. – Das so nebenbei. – Ich hatte mich mit meinem damaligen Vorgesetzten, dem Amtsrichter Werner, verabredet. Dieser sagte jedoch in letzter Minute ab. Er scheute die Anstrengungen des weiten Weges, der allerdings bei 22 Grad im Schatten keine Erholungsreise werden konnte. So brach ich denn allein auf, wohlversehen mit Proviant, einer Generalstabskarte und meinem handfesten Spazierstock, der in seinem Innern eine scharf geschliffene Degenklinge enthielt. Die Herrschaften kennen ja wohl alle diese sogenannten Degenstöcke. – Ich verfolgte zunächst eine Stunde lang die Chaussee, bog dann links in einen Waldweg ein, der unter hochstämmigen Fichten sich durchschlängelte, und schritt in einem Tempo dahin, das sicher meinem etwas korpulenten Vorgesetzten großes Mißbehagen bereitet hätte. Ich trug damals zu meinen Ausflügen einen leichten, grauen Flanellanzug – ein ausrangiertes Tenniskostüm –, dazu einen breitrandigen Strohhut und bequeme Lederstiefel. Sorgen hatte ich nicht, ich fühlte den Zauber des deutschen Waldes wieder auf mich wirken, atmete fröhlich die harzige, ozonreiche Luft ein, freute mich über die Vögel in den Haselnußsträuchern und über die flinken Eichhörnchen – anscheinend nichts nah und fern, was meinen Jugendfrohsinn stören konnte. Gewiß, es gab Kreuzottern in den Wäldern, ich hatte sogar einigen dieser giftigen Reptilien schon kunstgerecht mit meiner Degenklinge den Kopf abgeschlagen; aber das kriechende Gewürm konnte man vermeiden, wenn man nur etwas vorsichtig war. Kein Wunder also, wenn ich beinahe übermütig die Verse eines alten Studentenliedes vor mich hinsummte.

Der Nadelwald hörte auf, und ich betrat eine frisch ausgeholzte Lichtung, aus der sich nur einige Anpflanzungen junger Buchen wie hellgrüne Inseln hervorhoben. Hier spendete mir kein Baum wohltuenden Schatten. Ich fühlte die Sonnenstrahlen sengend auf meinem Hute,

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Walther Kabel: Die gelbe Gefahr (Reclams Universum, Jahrgang 33). Phillip Reclam jun., Leipzig 1917, Seite 627. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_gelbe_Gefahr.pdf/2&oldid=- (Version vom 28.4.2022)