Verschiedene: Die zehnte Muse | |
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Das schuldige Fräulein.
Einst sass die Unschuld neben meinem Bette
Und schirmte mich mit stiller Segnerhand,
Sie schritt mit mir zur Vesper und zur Mette
Und knüpfte in mein Haar ein blaues Band.
Kam heiss ein Hauch, der es zur Glut entfacht;
Doch trog die Liebe nur. Als sie gewichen,
Erstarb die Scham, im Innern ward es Nacht.
Bald klang das helle Gold im alten Spinde,
Ein blankes Geldstück kam auf jede Sünde,
Der Haufen Gold verschlang mein Jugendglück.
Aber sie lacht –
Jung ist sie und furchtbar verdorben,
Besser wär’s ihr, sie wäre gestorben,
Aber sie lacht und lebt –
Lacht über Sünde, lacht über Tugend,
Als wär’ sie schuldlos und rein!
Wenn ich sie sehe, muss ich mich fragen,
Wie wird sie einmal das Alter ertragen,
Reue und Armut, Krankheit und Not?
– Aber sie lacht und lebt;
Lebt und lacht über alles Verderben,
Denkt nicht an Reue, denkt nicht an Sterben,
Ist noch so jung und schön!
Tauschte sie nie ihre schäumende Jugend! –
Mir scheint es gar, sie fühlt Mitleid für mich –
– – – – – – – –
Wer ist glücklicher – sie oder ich?
Verschiedene: Die zehnte Muse. Otto Elsner, Berlin 1904, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_zehnte_Muse_(Maximilian_Bern).djvu/16&oldid=- (Version vom 16.11.2019)