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Verschiedene: Die zehnte Muse

Ein Bangen vor der Mutter fasst das Kind.
Es geht hinaus und leise, schüchtern klopft es
an des Studenten Thür. »Herein!« Und zagend,
errötend überschreitet sie die Schwelle:

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sie hat noch nicht gebettelt. –


 »Gretchen! Du? –
So komm doch näher, Kind … was giebt es denn?
Was hast du denn? O sieh – du hast geweint!
Gieb mir die Hand: wer hat dir was gethan?« –
Und freundlich fasst er ihre Hand und schaut

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in ihre grossen braunen Augen. Flehend,

doch ohne Scheu sind sie auf ihn gerichtet.
Und langsam sagt sie: »Nächsten Sonntag schon …
am Ostersonntag werd ich eingesegnet …
und alle kommen hin in schwarzen Kleidern …

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in neuen schwarzen Kleidern … aber ich …

ich bat die Mutter … Ach, wir sind so arm!«
Von jähem Mitleid mit sich selbst bewältigt,
bricht sie aufs neu in heisse Thränen aus,
und, wie nach Tröstung suchend, fasst sie fester

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die Hand des jungen Mannes.


 »Gretchen! Komm:
sei still!« Und ihre linke Hand, mit der
sie ihre Thränen trocknet, zieht er sanft
herab. – »Ich schenk es dir, das schwarze Kleid!«

Dann aber stösst er sie fast rauh von sich:

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»Ich habe noch zu thun … Komm! Sei gescheit!

Lass meine Hand … Ich habe noch zu thun …«
– – – – – – – – – – – – – –
Am Ostermontag früh – es war bald drei –
kam der Student, der heut im Kreis der Freunde
das Fest, wie sichs gebührt, gefeiert hatte,

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vergnügt und aufgeräumt nach Hause.


Tastend sucht er auf seinem Nachttisch nach dem Feuer.
Er streicht ein Zündholz an – »Was?« Alsogleich
lässt er es wieder fallen. »Was war das?« –
’s ist wieder dunkel. »Bin ich denn bezecht?«

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Und wiederum streicht er ein Zündholz an.

Doch diesmal zittert seine Hand. Er sieht
nicht auf das Bett, bevor die Kerze nicht
brennt – »Himmel!«

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Verschiedene: Die zehnte Muse. Otto Elsner, Berlin 1904, Seite 295. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_zehnte_Muse_(Maximilian_Bern).djvu/301&oldid=- (Version vom 31.7.2018)