Verschiedene: Die zehnte Muse | |
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Auf dem offnen Bette liegt
wie sie es Gott zu Ehren that. Das Kleid
ist aufgeknöpft – in ihrem Schosse liegt
noch der verwelkte Strauss, und heitrer Friede
ruht auf dem zarten Antlitz. Halb geöffnet
spielt wie ein Blütenduft um diese Lippen …
Minutenlang betrachtet er dies Bild,
starr, ohne Denken. Glühend heiss fühlt er
das Blut in seinen Adern, wieder dann
Doch dann besinnt er sich und fährt sich über
die Stirne mit der Hand und sucht zu lachen.
»Gretchen!« Sie lächelt still im Traume. »Gretchen!«
Sie fährt empor – der Friede ist gewichen,
»Mein liebes Kind, wie kommst du denn hieher?
Hast du im Zimmer dich geirrt?« – Sie hält verwirrt
ihr Kleid zusammen, senkt das Köpfchen. »Nein,«
sagt sie, »die Mutter schickte mich hierher.
Sie hätten’s so gewünscht –«
»Ich?! – Doch, jawohl …
Ich … wollte dich noch sehn in deinem Kleide,
ich dachte nicht … es ist so spät geworden,
und dann, der … der Pastor gab euch jedem doch
Sie knöpft an ihrem Kleide. »Selig sind,
die reines Herzens sind.« Sie sitzt und knöpft
an ihrem Kleide.
»Komm, nun geh hinüber.
Und schlafe weiter: bist gewiss recht müde.«
die Alte ein.
Sie lacht – verächtlich fast:
»Sie woll’n sie nicht? Auch gut. Es kommt ein andrer …
der andere, der immer kommt. Gut Nacht!
Wir wollten uns nicht lumpen lassen … Komm!« –
Verschiedene: Die zehnte Muse. Otto Elsner, Berlin 1904, Seite 296. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_zehnte_Muse_(Maximilian_Bern).djvu/302&oldid=- (Version vom 31.7.2018)