Verschiedene: Die zehnte Muse | |
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Das Kinderherz, es wollte nicht verstehen,
Dass nun die liebe, bleiche Hand erstarrt,
Die segnend über ihren Scheitel glitt,
– Man sprach zu ihr: komm, raff dich auf,
Du bist so jung, du hast ein hübsch Gesicht,
Das ist der Schlüssel zu dem Glück der Frauen!
Da ging sie denn. – Sie hat kein Wort gesprochen.
Begann den Weg sie durch das weite Leben,
Im Traume wandelnd ohne Wandermut!
– Ein Weltmeer ist Berlin; sie tauchte unter.
Doch die Gefahr giebt Mut, und Arbeit stählt.
Wenn Frieden heisst: Dem Leben still entsagen,
Wenn Frieden heisst: Das Leben ängstlich fliehn! –
– Du junges Herz, was treibt so schnell dein Blut,
Wenn neue Säfte in die Zweige steigen,
Ihr riefen’s zu die Sperlinge am Fenster:
»Der Lenz ist da!« Da färbten sich die Wangen,
Da fasste sie unsagbar ein Verlangen
Nach Glück, nach Lust, nach Leben und nach Liebe.
Und zog hinaus, wo grüne Zweige rauschen,
Wo Kinderjubel tönt, und frohe Menschen
Der Wiederhall des eignen Herzens sind.
– Da fand sie den, der ehrerbietig oft,
Im Banne ihrer Anmut sie begrüsst.
– Zwei Herzen schlagen schnell in gleichem Takt,
Wenn Jugend sie und heisser Glückeswille
Zusammen treibt. Sie lockt ein seltsam Drängen,
Ein Frühlingsgift, das durch die Pulse jagend
Die Jugend opfert und die Schönheit tötet.
Und doch ist es so süss, den Trank zu nippen,
Der uns berauschend hebt zu lichten Höh’n!
Ihr reines Herz vernahm ein hohes Lied,
Das Engelscharen ihr hernieder sangen. – – –
– Es war ein Sonntagmorgen, weihevoll.
Da hatte sie mit ihm die Stadt verlassen,
Verschiedene: Die zehnte Muse. Otto Elsner, Berlin 1904, Seite 316. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_zehnte_Muse_(Maximilian_Bern).djvu/322&oldid=- (Version vom 31.7.2018)