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herauszuhören, dessen Grundakkorde die von all diesen Tausenden unaufhörlich hervorgestöhnten, geschrieenen, geblökten oder erschöpft hingezischten Namen der gefeierten Märtyrer sind. Weherufe der Gequetschten und Zertretenen oder mit Stentorstimme gebrüllte Befehle, denen die entfesselten Horden den Gehorsam versagen, blöde Fisteltöne wahnsinniger Fakire, dazu das Geklirr der Waffen, das Rasseln des Elefantenschmuckes, das Geklimper der Ringe um Beine und Arme, in Nasen und Ohren der Tänzerinnen, die laute, mißtönende Musik — fürwahr, es ist ein Getöse, ganz dazu angetan, die durch reichlichen Opiumgenuß erhitzten Gemüter der Stadtbewohner zum Rasen zu bringen! Wie toll und blind rennen mit Flitterkram und Goldpapier geputzte Männer durch die Gassen, in der einen Hand den krummen Säbel, in der andern einen Knüttel, und schreien und gestikulieren und verfluchen alles, was anderen Glaubens ist als diese fanatischen Scharen.

Fruchthändler und religiöser Bettler.

Bis tief in die Nacht währt das blendende geräuschvolle Treiben, das die Armen ihr Elend und die Kranken ihre Schmerzen vergessen läßt, denn selbst aus den Hospitälern klingt beim Vorbeiziehen der Prozession der heisere Anruf Hassans und Husseins; ja sogar aus dem winzigen Luftloch in einem vermauerten Turm, in dem ein kürzlich eingefangener Verschwörer gegen das Leben des Neisams lebendig begraben wurde, heult der wimmernde Ruf.

Ist der Jubel des Moharremfestes auf den Straßen der Stadt verstummt, dann haben die Sängerinnen im Innern der Häuser noch in später Nacht vollauf zu tun, der Festfreude zu dienen. Dann müssen sie den mohammedanischen, im Harem auf Ruhebetten bequem hingestreckten Frauen, die das Haus nicht verlassen dürfen, unter Begleitung von Trommel und Fiedel die Legenden vortragen, die sich auf das heutige Fest, auf Ali und seine Söhne, auf die blutige Religionsschlacht in der Ebene von Kerbela beziehen; dieselben Lippen, die sonst jauchzend die Freude der Liebe und des Lebensgenusses preisen, stimmen heute mit ein in die preisende Anrufung Hassans und Husseins, der Helden des Festtages.

Am andern Morgen nimmt dann die Stadt wieder ihr alltägliches Gesicht an: der brahminische Hindu öffnet ruhig wieder seine Geschäftsräume, und die

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Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 114. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/162&oldid=- (Version vom 1.7.2018)