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Unseres Weilens ist hier nicht lange; ein heiser krächzender, ekelhafter Kerl, splitterfasernackt und mit heiliger Kuhdüngerasche bestreut, mit endlosen verfilzten Haaren und wie wahnsinnig rollenden Augen kreischt der uns umgebenden Menge ein paar fanatisierende Worte zu, und sofort nähern sich uns ein paar würdige Brahmanen mit nicht unliebenswürdigem Selbstgefühl, um uns feinlächelnd darauf aufmerksam zu machen, daß unser Betreten des heiligen Tempelbezirkes für jenen frommen Herrn ohne sichtbare Kleidungsstücke ein Greuel sei. Wir befolgen den klugen Grundsatz der englischen Regierung in Indien, die Eingeborenen in ihrem religiösen Empfinden möglichst wenig zu kränken, und verlassen den ummauerten Badeplatz.

Schon nach wenigen Schritten finden wir ein Seitenstück hierzu, das berüchtigte Pindschrapol[WS 1]. Hier verscheucht uns kein wüster Fanatiker; in Frieden könnten wir die Wunder dieses Platzes genießen, wenn — ja, wenn diese nur im besseren Geruche ständen! Nase wie Auge werden hier gleichermaßen beleidigt. Verkrüppelte, sieche oder altersschwache Tiere jeder Art genießen hier ihr Gnadenfutter durch die Barmherzigkeit von Mitgliedern der Dschainsekte, die sich die Pflege jeden tierischen Lebens als Folge ihres Glaubens an die Seelenwanderung zum Ziele setzt. Was dabei für nutzlose Tierquälerei herauskommt, sieht man hier voll Schauder und Ekel; mißgeborene Kälber, die nicht recht zu atmen vermögen und gewiß lieber sterben würden, schwindsüchtige Esel, dreibeinige Hühner und räudige Hunde werden hier so sorgfältig gepäppelt wie Wiegenkinder.

Einen besonders unheimlichen Glaskasten vermag man vollends nicht ohne Schaudern und Hautjucken zu mustern; die Insekten von jener fatalen Art, die Mephisto so vollzählig zu beschwören versteht und die zeitweilig wohl selbst die frommen Dschains peinigen mögen, werden von diesen milden Herren nicht etwa fröhlich gefangen und jauchzend zerknickt, sondern fein säuberlich hierher in das Pindschrapol getragen und nun behutsamst mit Mehl und Honig gesüttert, ja böse Mäuler behaupten sogar, daß allwöchentlich ein armer Paria für Geld und gute Worte in dieses Glashaus klettern müsse, um sich dort ein Stündlein regelrecht aussaugen zu lassen!

Viel weniger Umstände als mit diesem lebendigen Viehzeug macht der Hindu mit dem aus diesem Leben abgeschiedenen Mitmenschen. Alles Vergangene hat ja für den Hindu keinen Wert und kein Interesse mehr, woher es kommt, daß uns das älteste Indien so wenig historische Andenken aufbewahrt und hinterlassen hat; es gibt keine Funde, die über das dritte Jahrhundert unserer Zeitrechnung zurückreichten.

Da eilt gerade ein Leichenzug durch die Gasse daher; der fahle Mondschein läßt den Aufzug durch die Schlagschatten noch grausiger erscheinen, als er wirklich ist! Im hurtigen Schritt, unter Plaudern und fortwährendem „Sat hai“ Rufen[WS 2] wird die Holzbahre einhergetragen, auf der ein in ein gelbes, rot gesprenkeltes Tuch eingehüllter Leichnam ruht, über den Jasminblüten gestreut sind. Da die Pest, also eine ansteckende Seuche, die Todesursache war,

wird beständig ein Rauchfaß geschwungen, auch werden die Kleider mit dem

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Pindschrapol: hinduistische Tierheimeinrichtungen, heute bekannt als Pinjrapole / Panjrapole
  2. WS: Sat hai: Vollständig lautet die Formel Rama nam satya hai, übersetzt „Der Name Ramas ist die Wahrheit.“
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/172&oldid=- (Version vom 1.7.2018)