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unbekannten Gletschergebiete besuchen zu dürfen, wurde mir in letzter Stunde, wenige Tage vor Ablauf der mir zum Aufenthalt in Nepal bewilligten Zeit zu meiner freudigsten Überraschung die Erlaubnis eingeräumt, einen Ausflug in das Kukannigebirge zu unternehmen, wo ich über die Gebirgsgruppe des Gaurisankar von Westen her einen um einige Dutzend Kilometer näheren Überblick gewinnen konnte, als von den zu Beginn der Reise überschrittenen Grenzpässen Nepals aus.

Das Tintenfläschchen des Aufsehers. 3/10.

Der zu meiner Begleitung kommandierte Feldwebel jener indischen Sipeukompagnie, die zum Schutze des englischen Gesandten in einigen langen Kasernenschuppen neben dem Gesandtschaftsgebäude untergebracht ist, hatte schon nach den ersten Tagen die Lust verloren, mir auf Schritt und Tritt zu folgen; er machte sich die Sache allmählich immer bequemer und blieb manchmal ganz weg. Auch der mir von nepalischer Seite beigegebene Wächter schien es ziemlich satt zu haben, mit seiner breiten Rohrfeder in das niedliche Bronzefläschchen voll roter Tinte, das ihm am Gürtel hing, zu fahren, und auf einer schier endlosen Rolle Bastpapier jeden meiner Schritte und Blicke, jede Frage und jede Bemerkung, die ich mir gestattete, zu buchen. Schließlich mußte auch er in mein fröhliches Lachen einstimmen, sobald er sein ungeheures Register meiner Sünden hervorzog, das ich aber nicht etwa mit Leporellos Liste[WS 1] zu verwechseln höflichst bitten möchte.

Als ich diese Anwandlung von Umgänglichkeit bei dem mir nicht sonderlich sympathischen schieläugigen Manne bemerkte, versuchte ich, den Ausflug in den Zauberkreis des Gaurisankar-Everest zu einer wirklichen Freude, zu einem Naturgenuß zu erheben. Es hatte mich doch bisher allmählich verdrossen, unausgesetzt wie ein Sträfling beobachtet zu werden und zu sehen, wie mein Begleiter jedesmal in seine rote Tinte tauchte, wenn ich irgend eine Notiz in mein Taschenbuch eintrug; was für gelehrte Bemerkungen er dann niederschrieb, mögen die Götter wissen, denn ich bin kein Orientalist und konnte also seine Hieroglyphen nicht entziffern. Diese dem Wächter vom Durbar vielleicht mehr aus Neugier als aus Mißtrauen aufgetragene und von diesem mit übertriebener Wichtigtuerei vollzogene Berichterstattung über jede meiner Handlungen wollte ich bei der Gebirgstour ein wenig einzuschränken versuchen.

In der Dämmerung des schönsten, klarsten, sonnigsten Dezembermorgens, den ich in Nepal erlebt habe, stand die kleine Trägerkolonne, die mein Zelt, meine Decken, die Feldküche und Proviantvorräte und den Apparat tragen sollte, marschbereit vor der Tür meines Obdachs. Wanderfroh drückte ich meinem gestrengen Hüter mit dem Ersuchen, mir heute nicht unablässig wie

mein Schatten zu folgen, einige Backschischmünzen in die Hand, aber pflichtschuldigst und mit einiger Empörung wies der brave Mann die Batzen zurück, zog sein Tintenfläschlein hervor und schickte sich an, diesen höchst kritischen Vorfall schleunigst zu Protokoll zu nehmen. In meiner Besorgnis blitzte glücklicherweise

Anmerkungen (Wikisource)

  1. WS: Leporellos Liste: vergleiche Leporello (Heft)
Empfohlene Zitierweise:
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 310. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/396&oldid=- (Version vom 28.8.2018)