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Freundlichkeit. Er sagte ganz offenherzig, daß wir das Lied unter uns gesungen hätten, fände er nicht schlimm. Nur in Gegenwart des Herrn Direktors sei es ihm unangenehm gewesen. Der Arme! Solche Sorgen lagen uns noch fern. Als ich ihn noch einmal bat, unserer Klasse nichts nachzutragen, legte er die Hand aufs Herz und sagte: „Aber, gnädiges Fräulein, Sie kennen mich doch!“

Das Bierdrama hatte mir noch viel Sorge gemacht, weil die Schauspielerinnen ihre Rollen bis zur Generalprobe nicht ordentlich lernten. Bei der Aufführung ging es dann natürlich doch. Ich spielte nicht mit, sondern war Regisseur und Souffleur. Am Schluß aber wurde nach dem Autor verlangt, und Horaz setzte mir auf offener Bühne seinen Kranz auf. Professor Olbrich versicherte mir, er habe noch bei keinem Abschiedsfest ein so wohlgeordnetes Stück gesehen. Das betrachtete ich als ein zweifelhaftes Kompliment.

Die Bierzeitung wurde laut verlesen. Sie enthielt u.a. Xenien auf jede einzelne von uns. Die Lehrer verlangten, daß jede nach dem auf sie gemünzten Verschen aufstehen solle, weil sie nicht immer erraten konnten, wer gemeint war. Das meine lautete:

Gleichheit der Frau und dem Manne
So rufet die Suffragette,
Sicherlich sehen dereinst
Im Ministerium wir sie.

Als ich mich danach erhob, waren alle erstaunt. Es wurde ihnen selbst klar, wie wenig sie uns im Grunde gekannt hatten.

Als wir am Schluß noch plaudernd zusammensaßen, ließen wir uns von den Lehrern noch etwas zum Andenken auf die leere Rückseite der Bierzeitung schreiben. Mein Name verlockte wie gewöhnlich zu Anspielungen. Der einst so gefürchtete Direktor schrieb mir den freundlichen Spruch: „Schlag an den Stein und Schätze springen hervor“. Am besten gefiel mir aber ein kurzes Ibsen-Wort, das Professor Olbrich mir mitgab:

Hammerschlag auf Hammerschlag
Bis zum letzten Erdentag.

Nach der Prüfung brauchten wir nicht mehr in die Schule zu kommen. Die Klasse zerstreute sich, und wir kamen nie mehr wieder zusammen. Nicht einmal die Reifezeugnisse wurden uns feierlich in der Aula überreicht. Sie wurden erst später in die Wohnungen geschickt. Ich war in Berlin, als das meine eintraf, meine Angehörigen schickten mir eine Abschrift davon zu. Meine Mutter war so stolz darauf, daß sie es sogar ihren Geschäftsfreunden zeigte. Nach Jahren erfuhr ich durch eine gemeinsame Bekannte, daß einer

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/130&oldid=- (Version vom 31.7.2018)