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Kenntnisse anzueignen. Kaethe Scholz war ein ungewöhnlich tüchtiger und begabter Mensch. Ich kannte sie schon vom Sehen, denn sie hatte während ihrer beiden praktischen Jahre an der Viktoriaschule in den Vorschulklassen unterrichtet. Das genügte als Anknüpfung. Bald hatten wir verschiedene Arbeits-Verabredungen und wandelten in den Pausen zwischen den Vorlesungen in lebhaften Gesprächen in den Gängen der Universität auf und ab. Wir waren nicht das einzige solche feste „Pärchen“. Es ist allgemeine Erscheinung, daß sich solche feste Verbindungen beim Studium herausbilden, und wenn man ein paar Monate an einer Universität ist, dann kennt man diese Kombination genau. Kaethe Scholz stammte aus einer protestantischen Familie vom Lande. Sie war groß, schlank und blond, aus ihren hellen Augen leuchteten Frische, Lebenslust und ein übersprudelndes Temperament. Wenn sie von Anfang an auf die Prüfung und den Lehrerberuf hinarbeitete, so war sie doch nicht mit geringerer Freude als ich beim Studium. Überdies war sie sehr „geschäftstüchtig“. Sie hatte mehrere Zirkel, in denen sie Damen der Gesellschaft in geschichtliche und philosophische Fragen einführte. Das war viel einträglicher als gewöhnliche Privatstunden – sie konnte davon ihr Studium bestreiten. Es machte ihr außerdem Freude und war eine gute Methode, sich das, was sie im Kolleg gehört hatte, einzuprägen. Ihre Eltern wohnten draußen in Brokkau; sie kam jeden Morgen mit der Eisenbahn hereingefahren und blieb tagsüber in Breslau. Sie kam sehr gern in ihren freien Stunden zu mir zu gemeinsamer Arbeit und war bald ganz bei uns zu Hause. Dankbar und ohne Ziererei nahm sie es an, wenn uns eine kleine Stärkung gebracht wurde. Auch in der Universität verspeiste sie oft mit gutem Appetit mein Frühstücksbrot. Wir lernten zusammen eifrig Griechisch. Für den Anfängerkursus waren drei Wochenstunden angesetzt; in einem Sommersemester wurde die ganze Grammatik, natürlich in großen Umrissen, durchgenommen.

Im Winter folgte noch ein einstündiger Fortbildungskursus zur ersten Einführung in die Lektüre: Xenophons Anabasis und ein wenig Homer. Natürlich konnte dieser Unterricht nichts anderes sein als eine Anregung für eigene Arbeit. Die meisten Teilnehmer – Juristen, Theologen und Historiker – konnten sich dazu nicht entschließen und blieben nach wenigen Stunden fort. Sie wollten nur später eine Bescheinigung ihrer Teilnahme vorweisen können. Wir beiden gaben uns viel Mühe, uns die vielen Verbformen einzuprägen, und hielten durch. Aber freilich – wir waren Studentinnen und mochten dem eigentlichen Studium nicht gar zu viel Zeit für dieses schulmäßige Lernen entziehen. So bin ich zu meinem großen Schmerz nie zu einer so gründlichen und sicheren Beherrschung

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/139&oldid=- (Version vom 31.7.2018)