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nahm mir das Buch aus der Hand, um doch einmal zu sehen, in was für Dinge ich da vertieft sei. Ganz verblüfft sagte sie: „ Nun, das weißt du doch längst“. Wenn ich mich nicht irre, war es der „Parmenides“, und sie hatte gerade ein paar Sätze über das Eine und das Viele erwischt, die für den naiven Menschen wie platte Selbstverständlichkeiten klingen.

Es geschah auch nicht selten, daß mich meine Mutter den ganzen Tag, ja manchmal zwei Tage lang überhaupt nicht zu sehen bekam. Früh ging sie oft schon ins Geschäft, ehe ich zum Frühstück herunterkam. Ihre Mittagstunde war zwischen 12 und 1 Uhr, ich aber hatte manchmal bis 1 Uhr Vorlesung und aß dann allein nach. Und wenn ich abends bis 7 Uhr in der Universität zu tun hatte und um 8 Uhr schon wieder bei einer Abendveranstaltung in der inneren Stadt sein wollte, dann lohnte es nicht heimzugehen. Ich verbrachte die Stunde im Philosophischen Seminar oder in der Wohnung des Studentinnenvereins und verzehrte dort die mitgebrachten Butterbrote. Kam ich dann nach Hause, so schlief schon alles; auf dem Tisch im Eßzimmer erwartete mich ein liebevoll bereitgestellter Imbiß und die eingelaufene Post.

Auch darin unterschied ich mich von Erna, daß ich meine Freunde nicht wie sie in die Familie einführte. Ich lud sie überhaupt nicht zu mir ein, wenn es nicht eine gemeinsame Arbeit notwendig machte. Kam jemand zu diesem Zweck zu mir, so fand ich, ich könnte es ihm nicht zumuten, sich mit einer vielköpfigen Familie bekannt machen zu lassen und seine Zeit auf eine allgemeine Unterhaltung zu verschwenden. Nur, wenn wir im Vorzimmer oder Treppenhaus jemandem begegneten, stellte ich vor. Mit großer Beschämung muß ich gestehen, daß mir solche Begegnungen stets sehr unangenehm waren. Ja, ich war so albern, daß ich mich der Arbeitskleidung und der harten Arbeitshände meiner lieben Mutter schämte, wenn sie gerade vom Holzplatz heimkam. Die Freundinnen allerdings, die zu mir kamen, haben immer von selbst dafür gesorgt, daß sie auch mit meinen Angehörigen bekannt wurden, und es war keine darunter, die nicht die ungewöhnlichen Eigenschaften meiner Mutter bald erkannt und mit Liebe und Verehrung zu ihr aufgeblickt hätte.

An Geburtstagsfeiern und andern Familienfesten nahm ich auch weiter teil, mußte dann auch durch die nötigen Gelegenheitsdichtungen für Unterhaltung sorgen. Wie sehr ich mich sonst den Meinen entzogen hatte und daß sie es schmerzlich empfanden, das merkte ich selbst kaum. Ich lebte ganz in meinem Studium und den Bestrebungen, zu denen es mich geführt hatte. Darin sah ich meine Pflichten und war mir keines Unrechts bewußt.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 144. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/159&oldid=- (Version vom 31.7.2018)