Seite:Edith Stein - Aus dem Leben einer jüdischen Familie.pdf/194

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

verwenden: ein Weg, auf dem ihm seine alten Göttinger Schüler zu seinem und ihrem Schmerz nicht folgen konnten.

Husserl hatte ein eigenes Haus am Hohen Weg, auch am Rand der Stadt, am Aufgang zum „Rohns“ gelegen. (Der Rohns spielte eine große Rolle in seinen philosophischen Gesprächen; er mußte sehr häufig als Beispiel dienen, wenn Husserl von Dingwahrnehmung redete). Es war nach den Anweisungen seiner Frau den Bedürfnissen der Familie entsprechend gebaut. Das Arbeitszimmer des Meisters lag im Oberstock; es hatte einen kleinen Balkon, auf den er hinausging, um zu „meditieren“. Das wichtigste Möbelstück war ein altes Ledersofa. Das hatte er als Privatdozent in Halle erstanden, als er einmal ein Stipendium bekam. Ich mußte gewöhnlich in einer Sofaecke sitzen. Noch später in Freiburg haben wir unsere Diskussionen über den Idealismus oft von einer Sofaecke zur andern geführt. Bei seinen Schülern hieß er, wenn sie unter sich waren, nur „der Meister“. Er wußte darum und mochte es gar nicht leiden. Seine Frau nannten wir unter uns mit ihrem poetischen Vornamen Malwine. Sie war klein und mager; ihre glänzend-schwarzen Haare trug sie glatt gescheitelt, ihre braunen Augen blickten lebhaft und neugierig und immer etwas erstaunt in die Welt. Ihre Stimme klang etwas scharf und hart und immer so, als ob sie einem zu Leibe rücken wollte; es war aber eine Beimischung von gutmütigem Humor darin, die mildernd wirkte. Man war in ihrer Anwesenheit immer etwas besorgt, was es wohl geben würde; denn sie sagte meist etwas, was einen in Verlegenheit brachte. Leute, die sie nicht leiden mochte, wurden sehr schlecht behandelt. Aber sie hatte auch sehr ausgesprochene Sympathien. Ich persönlich habe von ihr immer nur große Freundlichkeit erfahren. Wodurch ich es verdient habe, weiß ich nicht. In späteren Jahren hätte man es darauf zurückführen können, daß ich ihrem Mann wertvolle Dienste leistete. Aber sie kam mir schon so entgegen, als ich noch eine ganz kleine und unbedeutende Studentin war. Wenn ich bei ihrem Mann war, trat sie meist mitten drin ein und sagte, sie wollte mich begrüßen. (Die schönsten Gespräche wurden so plötzlich durchschnitten). Sie besuchte regelmäßig Husserls Vorlesungen und hat mir später gelegentlich gestanden (was wir aber alle längst wußten), daß sie die Hörer zu zählen pflegte. Ein inneres Verhältnis zur Philosophie hatte sie nicht. Sie betrachtete sie als das Unglück ihres Lebens, weil Husserl zwölf Jahre als Privatdozent in Halle leben mußte, ehe er einen Ruf bekam. Und dann war es kein reguläres Ordinariat, das er in Göttingen erhielt, sondern ein persönliches, das der tatkräftige und weitblickende, aber etwas selbstherrliche Kultusminister Althoff eigens für ihn schuf; und seine Stellung in der Fakultät war eine

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/194&oldid=- (Version vom 31.7.2018)