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Schlaf wecken. Sie rieb sich die Augen und war noch halb benommen, als sie mir ihr Ja zunickte.

Es waren zwei große Baderäume vorhanden, der eine mit mehreren Wannen, der andere mit Brausen. Die Ankommenden mußten sofort alles Zeug ablegen, das sie am Leibe hatten. Es wurde zur Entlausung weggeschafft. Wer gehen konnte, wurde unter die heißen Brausen geschickt und mußte sich da gehörig reinigen. Die Leute, die sich nicht selbst helfen konnten, mußten wir wie die kleinen Kinder in die Wannen setzen und abwaschen. Wer so schwer verwundet war, daß man ihn nicht baden konnte, der wurde auf der Tragbahre gewaschen. Es war ein lustiges Treiben bei diesem Reinigungsgeschäft. Man kann sich kaum vorstellen, welche Wohltat das Bad für diese Menschen war, die meist seit Monaten, manche vielleicht das ganze Jahr keine Möglichkeit gehabt hatten, sich gründlich zu säubern. Wir freuten uns mit ihnen, daß wir ihnen etwas Gutes tun konnten, ohne ihnen wehzutun. Die nächste Station für sie war der Operationssaal, und da ging es doch für die meisten nicht ohne heftige Schmerzen ab. Die Leute, die aus Polen kamen, waren seit 10 Tagen unterwegs, und viele hatten noch den ersten Verband, den man ihnen sofort nach der Verwundung angelegt hatte. Schon das Ablösen war eine Qual. Und wie sahen die Wunden aus! Hier im Bad aber waren sie froh wie Kinder. Ich wusch einen blutjungen westfälischen Bergmann auf der Bahre ab. Er hatte an beiden Oberschenkeln große Verbände. Seine blauen Kinderaugen strahlten mich glücklich an.

Am Abend dieses Tages rief mich Schwester Oberin im Speisesaal zu sich heran. „Schwester Edith, gehen sie morgen früh nach Baracke 6 zu Schwester Marie Luise. Sie sind ein ruhiger Mensch. Ich denke, das wird gehen“. Also eine neue Versetzung und anscheinend keine ganz leichte! Ich kannte Schwester Marie Luise nicht, aber in der kleinen Gemeinde wurde mir kondoliert: sie sei so nervös, daß keine Helferin es bei ihr aushalten könne; alle liefen nach ein paar Tagen wieder davon. Natürlich nahm ich mir vor, mein Möglichstes zu tun, um Schwester Oberin nicht zu enttäuschen.

Die Baracke 6 lag ziemlich weit von den Hauptgebäuden entfernt. Sie war mit Leichtverwundeten von den beiden letzten Transporten voll belegt worden (zwei Säle mit je 50 Leute); die brauchten nicht in den Operationssaal gebracht zu werden, sondern konnten im kleinen Verbandzimmer der Baracke versorgt werden, einige schwerere Fälle im Bett. Schwester Marie Luise empfing mich überaus freundlich. Sie war ein kleines, zartes Geschöpf; die Nervosität sah man ihr schon am Gesicht an. Der Arbeit war sie nicht im mindesten gewachsen, sie war glücklich, Hilfe zu bekommen, und hatte sich offenbar vorgenommen, sich sehr zu beherrschen, um

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 252. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/271&oldid=- (Version vom 31.7.2018)