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Freiburg. Das alles hatte ihn aus den Gedankengängen seines Werkes herausgerissen, und er konnte sich nicht wieder hineinfinden. Den Entwurf konnte er nicht mehr entziffern, denn er hatte ihn in winzigen Bleistiftzeichen stenographiert; dafür langte seine Sehkraft nicht mehr aus, er klagte schon lange über die Schwäche seiner Augen, hätte gerne eine Staroperation vornehmen lassen, das Übel wurde aber nicht operationsreif. Jetzt wußte er nur eine Rettung: er mußte einen Assistenten haben. Wir lagen in unsern Betten und zerbrachen uns die Köpfe: wo sollten wir einen Assistenten für den Meister hernehmen, da alle alten Schüler im Felde standen? Am ehesten hätte sich wohl Fritz Frankfurter dafür geeignet. Aber er war ja als einer der ersten gefallen. „Wenn ich dächte, daß er mich brauchen könnte“, sagte ich schließlich, „würde ich kommen“. Erika war ganz erstaunt. „Wäre das möglich? Ich könnte es nicht. Ich muß jetzt in den Schuldienst gehen und etwas verdienen“. Ich hatte auch kein Vermögen, von dem ich leben konnte. Aber Rechnen war nicht meine Sache. Ich würde es einfach tun. Nur schien es mir gar nicht denkbar, daß ich in Betracht kommen könnte. Ich war doch so ein kleines Ding und Husserl der erste unter den lebenden Philosophen – nach meiner Überzeugung einer von den ganz Großen, die ihre Zeit überleben und die Geschichte bestimmen[1]. Aber ich wußte mir Rat. „Ich will ihn selbst fragen. Ich kann noch warten bis nach der Prüfung. Wenn er die Arbeit fertig gelesen hat, wird er es ja auch besser beurteilen können“. Damit beschlossen wir unsere Beratung und sagten uns Gute Nacht.


5.

Als wir am nächsten Tage um 6 Uhr nachmittags mit Frau Husserl vor dem Portal der Universität warteten und Husserl die Stufen herabkam, sagte er zu seiner Frau: „Geh mit Fräulein Gothe voraus, ich habe mit Fräulein Stein zu sprechen“. So setzten wir uns zwei und zwei in Bewegung. Ich wartete gespannt, was nun kommen würde. Schon vor einigen Tagen hatte der Meister gescherzt: „Ihre Arbeit gefällt mir immer besser. Ich muß mich in acht nehmen, daß es nicht gar zu hoch hinaufgeht“. Jetzt ging es zunächst im selben Ton fort: „Ich bin nun schon ziemlich weit in Ihrer Arbeit. Sie sind ja ein sehr begabtes kleines Mädchen“. Dann wurde er etwas ernsthafter. „Ich habe nur Bedenken, ob diese Arbeit


  1. Ich schreibe dies am 27. IV. 1939. Heute vor einem Jahr ist der liebe Meister in die Ewigkeit gegangen.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 289. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/308&oldid=- (Version vom 31.7.2018)