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mit. Da sie es aber nie fertig brachte, pünktlich zu erscheinen, sich oft eine Stunde und mehr verspätete und dadurch immer wieder Ärger erregte, blieb sie schließlich zu Hause und ließ ihn allein gehen. Das andere Paar nimmt das Abendessen mit seinen vier Kindern zu Hause und kommt erst hinterher zu uns. Sobald meine Schwägerin Martha im Zimmer ist, braucht niemand mehr für Unterhaltung zu sorgen. Sie hat immer einen ganzen Vorrat von lustigen Geschichten auf Lager und vergnügt sich damit, alle Anwesenden zu necken. Es ist der Ton, in dem sie mit ihrer Mutter und Schwester zu verkehren gewöhnt war, und es ist ihr nicht leicht gewesen, sich bei so ernsthaften Menschen einzuleben. In einem ausgebreiteten Freundes- und Bekanntenkreis findet sie die Resonanz, die in der Familie fehlt. Meine Mutter ärgerte sich immer, wenn Martha nicht genug von Amerika schwärmen konnte. Sie selbst ist immer eine deutsche Patriotin gewesen. Sie hat i.J. 1871 geheiratet, und das Hochzeitslied ist auf die Melodie: „Es braust ein Ruf wie Donnerhall“ gedichtet worden. Darum kann sie auch heute gar nicht darüber hinwegkommen, daß man ihr ihr Deutschtum abstreiten will.

Neben meinem Bruder Arno wirkt seit Jahrzehnten als treue Stütze unserer Mutter im Geschäft meine Schwester Frieda. Unser Ältester hat uns als Kindern allen Spitznamen gegeben. Frieda war der „Frosch“. Von den andern Geschwistern unterschied sie sich durch ein ausgesprochenes Phlegma. Sie hat wohl am wenigsten theoretische Begabung mitbekommen und mußte sich in der Schule sehr plagen. Sie brauchte lange Zeit, um sich etwas einzuprägen, dann saß es aber sehr fest. Es machte ihr Freude, die Gedichte, die sie für die Schule auswendig lernen mußte, immer wieder laut herzusagen. Dadurch habe ich schon als kleines Kind Schillers und Uhlands Balladen kennen gelernt und mit fünf Jahren „Bertran de Born“ auswendig deklamieren können. Durch ihren großen Fleiß gelang es ihr, den Klassenanforderungen zu genügen und die höhere Mädchenschule (wir haben alle die Viktoriaschule besucht) ohne Anstoß zu absolvieren. Dann erlernte sie den Haushalt und auf einer Handelsschule Buchführung. Von ihrer Einführung in die häuslichen Geschäfte hat sich mir ein Bild unauslöschlich eingeprägt: sie sollte die Küche scheuern; dazu nahm sie in der Mitte der Küche auf einem Stuhl Platz und begann mit der Scheuerbürste den Fußboden um sich herum zu bearbeiten. Das laute Gelächter der Zuschauer brachte sie schnell auf die Beine. Schwere körperliche Arbeit hat ihr nie gelegen, nicht nur aus Bequemlichkeit, sondern weil sie sehr klein und schwächlich war. Dagegen hatte sie Talent, einen Haushalt einzurichten und zu leiten. Es machte ihr große Freude,

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/35&oldid=- (Version vom 31.7.2018)