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Angeberei. Wenn man zu ihr kam, um sich über ein anderes Kind zu beklagen, wurde einem sofort das Wort abgeschnitten: „Klatschen will ich nicht hören“. Oft wurde dann erzählt, wie es ihr Lehrer in solchen Fällen gehalten hatte. Er gab beiden Kindern eine Ohrfeige, dem einen für die Unart, dem andern fürs Klatschen.

Ein Liebling meiner Mutter und einer der treuesten Stammgäste auf dem Holzplatz war ihr Neffe Ernst Courant. Er war nur einige Wochen jünger als ich, wurde mir aber oft zur Beaufsichtigung anvertraut. In den Schulferien mochte er lieber zu uns kommen als verreisen. Er konnte mit uns oder auch allein stundenlang spielen. Wenn wir brav waren, bekamen wir manchmal ein paar Pfennige geschenkt und durften uns beim Bäcker nebenan „Dreierkuchen“ kaufen. Beim Umgehen mit dem ungehobelten Holz jagten wir uns oft einen Span in die Finger; dann sprangen wir zu einem unserer Arbeiter und ließen ihn mit dem Taschenmesser herausholen.

Das Verhältnis meiner Mutter zu ihren Arbeitern war ein durchaus patriarchalisches. Zu Weihnachten wurden sie mit Geld, Lebensmitteln und Kleidern für die Kinder beschenkt. Das Geld bekamen sie aber nicht bar in die Hand (damit es nicht vertrunken würde), es wurden Sparkassenbücher für sie angeschafft und die Geschenke regelmäßig eingezahlt. Jahrelang hatten wir einen jungen, besonders tüchtigen Arbeiter, den meine Mutter sehr gern leiden mochte. Er hatte schon vorher in andern Holzgeschäften gearbeitet, war den meisten Kunden bekannt und wurde von allen mit seinem Vornamen – Hermann – genannt. Er stand ganz allein und hatte niemanden, der sich um ihn kümmerte. Auch er trank gern etwas zuviel und ging immer sehr zerlumpt und abgerissen herum. Meine Mutter gab sich große Mühe, einen ordentlichen Menschen aus ihm zu machen. Er war ein bildhübscher Bursch und sah blühend und kräftig aus, war aber lungenleidend. Schließlich mußte er ins Krankenhaus gehen; er hatte lange nicht daran glauben wollen und hoffte bis zuletzt, daß er bald wieder anfangen könnte zu arbeiten. Meine Mutter besuchte ihn jeden Sonntag und nahm ihm die besten Kräftigungsmittel mit. Sie betrauerte ihn sehr, als er starb.

Ein anderer, der mit ihm zusammengearbeitet hatte, blieb noch viele Jahre bei uns. Meißner war sehr unfreundlich und ließ sich wenig sagen. Aber er arbeitete tüchtig und meine Mutter hätte auf seine Ehrlichkeit geschworen. Darum behielt sie ihn immer wieder und war auch für ihn und seine vielen Kinder sehr besorgt. Sie ließ ihm regelmäßig durch einen Geschäftsfreund aus Polen ein besonderes Mittel gegen sein Asthma kommen. Seine erste Frau half öfters bei uns im Haushalt. Sie war sehr sauber und ordentlich, sehr auf ihre Kinder bedacht, aber nicht ganz ehrlich. Eines Tages

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/42&oldid=- (Version vom 31.7.2018)