Seite:Edith Stein - Aus dem Leben einer jüdischen Familie.pdf/99

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

eine Lücke in den Geschwisterkreis meiner Mutter. Ihre Zweitälteste Schwester, Cilla Burchard, starb nach einem langen, qualvollen Krebsleiden und einer schweren Operation, die das Ende nur um kurze Zeit verzögerte. Wir erlebten alle Stadien dieser Krankheit mit, denn mit der Familie Burchard verbanden uns besonders nahe Beziehungen. Der Onkel war der treue Freund meiner Mutter, der ihr im Geschäft beistand, so gut er konnte. In der Jugend hatte sie ihn im elterlichen Geschäft angelernt. Er war auch jetzt kein selbständiger Kaufmann und schaute zu der Nichte, die nun seine Schwägerin war, (ich erwähnte früher, daß er der Bruder unserer Großmutter war) mit Bewunderung auf. Er führte ihr eine Zeitlang die Bücher. Als das nicht mehr nötig war, kam er noch ziemlich regelmäßig jeden Tag einmal nachfragen, ob er einen geschäftlichen Gang besorgen könne. Meine Mutter hegte für ihn eine dankbare Zuneigung und trat stets für ihn ein. Im eigenen Hause war er nämlich wenig angesehen. Meine Tante Cilla war ein herber, verschlossener Charakter. Sie war überaus freigebig, und liebte es, als Hausfrau aus dem Vollen zu wirtschaften. Es verletzte ihren Stolz, daß ihr Mann nicht imstande war, zu verdienen, was sie brauchte, daß die Eltern manchmal nachhelfen mußten und daß ihre geliebten Töchter schon früh zum Mitverdienen genötigt waren. Fritz, der einzige Sohn, studierte Medizin. Von ihm war zunächst keine Hilfe zu erwarten. Es war in jener Zeit durchaus üblich, daß die Schwestern angestrengt arbeiteten, um ihren Brüdern das Studium zu ermöglichen. Martha, die ältere Tochter, war nur wenig älter als meine Schwester Ehe und ihre treueste Freundin. Solange Else zu Hause war, erschien Martha regelmäßig jeden Abend bei uns, und wir alle sahen sie wie eine Schwester an. Sie machte das Lehrerinnenexamen, fand aber dann Anstellung als Beamte an der Landesversicherungsanstalt in Breslau und war hier mehrere Jahrzehnte mit großer Gewissenhaftigkeit tätig, bis sie pensioniert wurde. Sie war still und verschlossen wie ihre Mutter; beide Töchter hatten auch ihre Freigebigkeit und unbegrenzte Gastfreundlichkeit geerbt. Nur war Martha nicht herb und kurz angebunden wie die Tante, sondern freundlich und zuvorkommend im Verkehr. Meine Mutter konnte es nicht begreifen, daß diese Menschen, die allen Freunden gegenüber liebenswürdig und hilfsbereit waren, für den eigenen, guten Vater kein freundliches Wort übrig hatten. Als sie Martha das einmal unter vier Augen vorhielt, bekam sie eine schroff abweisende Antwort, aus der hervorging, daß sie ihrem Vater eine Ehrlosigkeit vorwarf. Worin diese bestanden haben sollte, wußte niemand von uns. Meine Mutter war überzeugt, daß eine völlig irrige Auffassung bei meiner Tante vorhanden gewesen sein müsse und sich ihren

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/99&oldid=- (Version vom 31.7.2018)