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Vom Wesen des Grundes

Ist diese Verschiebung damit zu rechtfertigen, daß die menschliche Vernunft als eine endliche sich in die Grenzen des Endlichen einschränken und der Anmaßung entsagen müsse, vom Seienden an sich und von einer unendlichen Vernunft etwas erfassen und sagen zu wollen? Ist nicht vielmehr die Erkenntnis der eigenen Grenzen zugleich notwendig ein Durchbrechen dieser Grenzen? Sich selbst als endlich erkennen, heißt sich als etwas und nicht alles erkennen, damit wird aber das Alles ins Auge gefaßt, wenn auch nicht begriffen, d.h. von der menschlichen Erkenntnis umfaßt und bewältigt. Menschliches Seinsverständnis ist nur möglich als ein Durchbruch vom, endlichen zum ewigen Sein. Das endliche Sein als solches verlangt danach, vom Ewigen her begriffen zu werden. Weil aber der endliche Geist das ewige Sein nur eben aufleuchten sehen, aber nicht begreifen kann, darum bleibt für ihn auch das endliche Sein, auch sein eigenes Sein, ein unbegriffenes, ein magis ignotum quam notum: die ewige Verlegenheit, das ἀεὶ ἀπορού ιενον, das uns, als Ausgangspunkt der Metaphysik bei Aristoteles begegnete und in das Heideggers Grundlegung der Metaphysik ausklingt.

Wenn das Kant-Buch geschrieben wurde, um eine Antwort auf die Frage zu finden, in die Sein und Zeit ausklang: ob ein Weg von der ursprünglichen Zeit zum Sinn des Seins führe, ob die Zeit der Horizont des Seins sei, so hat es offenbar sein Ziel nicht erreicht. Die Zweideutigkeit der Zeit, die zugleich Anschauung und Angeschautes, Entwerfen und Entworfenes sein soll, und ebenso das Schillern dessen, was als Horizont bezeichnet wird, ist es gerade, was den Weg zum Sinn des Seins verbaut. Und wenn am Ende von Sein und Zeit der eingeschlagene Weg fraglich geworden war, so hat der Rückblick darauf im Kant-Buch ihn noch fraglicher gemacht. Und auch, was sonst noch im Druck erschienen ist, hat darin nichts geändert.


VOM WESEN DES GRUNDES

Wie das Kant-Buch, so sollen auch die beiden kleinen Schriften Vom Wesen des Grundes[1] und Was ist Metaphysik[2] offenbar das vorausgehende große Werk erläutern, Mißdeutungen, die es


  1. In der Husserl-Festschrift, Halle a.S. 1929, S. 71 ff.
  2. Es ist die öffentliche Antrittsvorlesung, die Heidegger am 24. Juli 1929 in [128] der Aula der Universität Freiburg i.Br. hielt, erschienen bei Cohen in Bonn 1930.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/127&oldid=- (Version vom 31.7.2018)