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Abschnitt I

einen Angriffspunkt bieten, in Versuchung sein und der Versuchung erlegen sein. Erst wenn das Letzte geschehen ist, steht die Seele wirklich im Zeichen des Bösen, hat sie sich seinem Reiche verschrieben, so daß der Geist des Bösen in ihr Einzug halten kann. Wir sagten, daß nun dieser Geist aus ihr herauswirke und nicht mehr sie selbst nach ihrer natürlichen Weise auf Eindrücke, die sie empfängt, reagiere. Natürlicherweise entsprechen gewissen Eindrücken bestimmte ihnen nach Vernunftsgesetzen zugeordnete Reaktionen. Es gibt etwas, was liebenswert ist, und etwas, was Haß verdient. Was liebenswert ist, lieben, was hassenswert ist, hassen, das kann jeder von Natur aus. Es gibt ferner von Natur aus individuelle Verschiedenheiten im Lieben und Hassen und in der Geneigtheit dazu. Aber Liebenswertes hassen, das ist nicht natürlich, sondern spezifisch teuflisch, und das kann nur der Böse selbst oder einer, der vom Bösen besessen ist. Seine Reaktionen sind weder aus der natürlichen Vernunft zu verstehen noch aus der Individualität, sondern einzig und allein aus dem Geiste des Bösen heraus. Der Haß ist die spezifische Reaktion des Bösen oder richtiger der spezifische geistige Akt, in dem das Böse sich selbst seinem materialen Wesen nach ausstrahlen kann und notwendigerweise ausstrahlen muß[1]. Das Böse ist ein verzehrendes Feuer. Wenn es bei sich selbst bliebe, müßte es sich selbst aufzehren. Darum muß es, ewig unruhig von sich fortstrebend, nach einem Herrschaftsbereich suchen, in dem es sich festsetzen kann, und alles, was von ihm ergriffen wird, wird von der ihm eigenen Unruhe erfaßt und aus sich herausgetrieben. Darum ist die Seele, wenn sie sich dem Reich des Bösen verschrieben hat, nicht bei sich selbst und also auch in diesem Reich nicht zuhause.

Wir wenden uns nun dem Verhältnis der Seele zum Reich der Gnade zu. Auch die Gnade muß, um von der Seele frei ergriffen werden zu können, bereits in der Seele wirksam sein und muß, um wirksam sein zu können, schon eine Stätte darin vorfinden. Und wie der Geist des Bösen, so bewirkt auch der Geist des Lichts, der heilige Geist, in der Seele, von der er Besitz ergreift, eine Abwandlung ihrer natürlichen Reaktionen. Es gibt Reaktionen, die durch ihn ausgeschlossen sind, auch wo sie nach natürlicher Vernunft angebracht wären: Haß, Rachgier u.dgl. Und es gibt geistige Akte


  1. Vgl. Anmerkung 3.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 151. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/151&oldid=- (Version vom 31.7.2018)