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Natur und Übernatur in Goethes „Faust“

Schlüssel zum Verständnis nicht der Dichter, sondern die Dichtung selbst. Diese Dichtung bietet aber dem gläubigen oder wenigstens in der christlichen Glaubenswelt bewanderten Leser noch etwas ganz anderes als die Kämpfe einer einsam ringenden Menschenseele.


II

Damit verlassen wir das Renaissancegebäude und treten in den gotischen Dom ein. – Es ist unverkennbar, daß rein dichterisch betrachtet der Prolog im Himmel einen ganz andern Charakter hat als etwa der Maskenzug, die klassische Walpurgisnacht oder das Helena-Drama des II. Teils. Dort haben wir eine allegorische Bildersprache, die ganz anderes meint als das, was bildhaft dargestellt ist. Hier treten wir in eine Welt realen Seins und Geschehens ein, die nicht mehr über sich hinausweist auf etwas, was „eigentlich gemeint ist“. Für den Gläubigen ist es keine fremde Welt, sondern eine, die ihm lieb und vertraut ist, in die er mit Ehrfurcht und heiliger Freude hineinschaut: die himmlischen Heerscharen, die das ewige Sanctus singen, in seinen Werken den Schöpfer preisen, hoch erhaben über menschliche Erkenntniskraft und doch unvermögend, den Unaussprechlichen zu fassen, und in der demütigen Erkenntnis ihres Unvermögens befriedet, in „süßer Sachlichkeit und beschwingtem Ernst“[1] zum Dienst des Ewigen bereit.

Ein greller Mißton zerreißt diese Harmonie: die freche Rede des Schadenstifters, der zerstörend in Gottes Schöpfung einzutreten sucht, der es wagt, vor dem Herrn zu erscheinen und ihm eine Wette anzubieten, als wäre er eine Macht neben dem Allerhöchsten, und doch wider Willen gestehen muß, daß sein Wirken nicht weiter reicht, als Gottes Zulassung es ihm bemißt. Um des Menschen Seele geht der Kampf. Himmel und Hölle ringen um sie. Wenn wir sie sehen werden in ihrer Einsamkeit und Not, nur in dunklem Drange ihres Weges bewußt, der für sie in Nacht und Nebel gehüllt ist, wenn wir Zeuge werden ihres Ringens, ihres Fallens und Wiederaufstehens, wird uns die tröstliche Gewißheit begleiten, daß sie in Gottes Hände gezeichnet ist, daß ihr Weg und Ziel sonnenklar vor


  1. So hat es H. CONRAD-MARTIUS in ihren Metaphysischen Gesprächen ausgedrückt. (Halle 1921)
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Natur und Übernatur in Goethes Faust. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/24&oldid=- (Version vom 31.7.2018)