Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen | |
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92 | 240. 241. Die Vocale: 2. Das Eigentonsystem. |
auch die Anhänger des Eigentonsystems zugeben, mit erheblichen
Schwierigkeiten verknüpft. Ohne genaueste mündliche
Anweisung seitens eines erfahrenen Lehrers wird wohl kaum
ein Anfänger je im Stande sein, die Flüsterprobe praktisch zu
verwerthen. Auch die Stimmgabelprobe ist nicht so leicht zu
machen, als man wohl denken möchte. Der Anfänger, der sein
Sprachorgan noch nicht völlig in der Gewalt hat, ist stets der
(efahr ausgesetzt, nur einseitig die Lippenöffnung oder die
Stellung der Zunge zu varüiren, um zu einer Stellung von bestimmtem
Eigenton zu gelangen, mag man ihm auch noch so
deutliche Vorschriften über die Bildung der gesuchten Articulationsstellung
geben: ja in den meisten Fällen gelingt dem
Anfänger das ganze Experiment der Einstellung auf einen bestimmten
Ton überhaupt nicht, wenn nicht etwa zufällig ein ıhm
geläufiger Vocal den geforderten Eigenton hat. In der Regel
führt eine Beobachtung der Klangfarben der gesprochenen
Vocale rascher und sicherer zu dem gewünschten Ziele.
240. Das Eigentonsystem gewährt daher weder in theoretischer noch in praktischer Beziehung irgendwie erhebliche Vortheile vor dem Klangfarbensystem, durch dessen Modification es entstanden ist. Dafür hat es an allen wesentlichen Gebrechen desselben Antheil, und muss also mit ihm stehen oder fallen.
241. Das Klangfarbensystem wie das Eigentonsystem ist in letzter Instanz auf der altüberlieferten Vocalreihe u, o, a, e, i aufgebaut. Von diesen Vocalen erfordern a, e, i in der Regel nur eine selbständige Zungenarticulation, o und u dagegen neben dieser auch eine selbständige Lippenarticulation, die Rundung. Das Gleiche gilt von Lauten wie ö, ü. Was berechtigt nun dazu, o und u als Grundlaute zu betrachten, ö und ü dagegen als ‘Vermittelungsvocale’? Wo ist ferner in einem so aufgebauten System Raum für die gar nicht seltenen Vocale, die mit der Zungenstellung von o, u, aber ohne deren Lippenrundung gesprochen werden? Sie fehlen auch in dem Vierreihensystem Trautmann’s, denn dessen vierte Reihe umfasst ja, wenigstens seiner Definition nach, nicht Laute mit rein passiver Lippe. So gut man aber ö, ü als aus e, i abgeleitet betrachtet, so gut müsste man consequenter Weise auch das o, u aus der Reihe der Grundvocale streichen, denn auch sie verbinden eine modifieirende Lippenartieulation mit der Zungenarticulation. Es fehlen ferner in jenen Systemen die Vocale, welche durch Articulation der Mittelzunge gegen den Gaumen gebildet werden.
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/112&oldid=- (Version vom 27.5.2022)