Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen | |
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200 | 519. Der Bau der Silbe im Allgemeinen. |
einzelnen Falle, und dies Mass ist wiederum in jedem Falle von
zwei Factoren, der Druckstärke und der Schallfülle, abhängig.
Diese beiden Factoren können selbstverständlich entweder in
gleichem oder entgegengesetzten Sinne wirken, d. h. man kann
ganz beliebig Laute von grosser Schallfülle zugleich mit grosser,
Laute von geringerer Schallfülle zugleich mit geringerer Druckstärke
sprechen, ebenso gut aber auch Laute von geringerer
Schallfülle mit grosser Druckstärke und umgekehrt. Daraus
folgt denn, dass sich die Wirkungen der beiden Factoren auch
bis zu einem gewissen Grade gegenseitig compensiren können,
d.h. dass z.B. ein weniger schallvoller Laut durch Anwendung
grösserer Druckstärke einem schallvolleren Laut mit geringerer
Druckstärke mehr oder weniger gleichwerthig gemacht werden
kann. Im Ganzen aber überwiegt für die Silbenbildung der
Einfluss der Schallfülle den der Druckstärke dergestalt, dass
im Ganzen nur geringere Differenzen der Schallfülle durch
entsprechende Variation der Druckstärke compensirt oder überwunden
werden können (s. 522. 539 f.).
Hinsichtlich des Einflusses der beiden Factoren auf die Silbenbildung im Einzelnen ist etwa Folgendes hervorzuheben.
519. Es ist bekannt, dass z. B. jeder isolirte Vocal, wenn er auch noch so kurz und abgebrochen hervorgestossen wird, für sich eine ‘Silbe’ bildet. Man kann aber auch einen Vocal, sagen wir a, so lange aushalten als der Athem reicht, ohne dass das Mass einer Silbe überschritten wird. Dabei ist es gleichgültig, ob man den Vocal von Anfang bis zu Ende mit gleicher Druckstärke ( =) aushält (also a=), oder ihn bei wechselnder Druckstärke gleichmässig anschwellen ( <) oder allmählich und gleichmässig verklingen (a) oder endlich ihn erst anschwellen
und dann wieder verklingen lässt ( a<>; vgl. 537). Bei dieser Behandlung der Druckstärke (d. h. den Typen =, <, > und <>) findet, wie man sieht, da die Schallfülle sich hier gleich bleibt, innerhalb des Vocals kein Durchgang durch ein Minus von Schallstärke statt, und daher wird der Vocal, so lang er auch sein mag, als eine einheitliche Silbe aufgefasst. Spricht man dagegen einen Vocal wie « abwechselnd lauter und leiser, d.h. so, dass man den Stromdruck abwechselnd verstärkt und schwächt (also Typus <><><>····), so zerfällt der ausgehaltene Vocal in eine Reihe unterscheidbarer Abschnitte, die dem Ohr ebensogut den Eindruck verschiedener Silben machen,
Eduard Sievers: Grundzüge der Phonetik zur Einführung in das Studium der Lautlehre der indogermanischen Sprachen. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1901, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eduard_Sievers_-_Grundz%C3%BCge_der_Phonetik_-_1901.djvu/220&oldid=- (Version vom 21.6.2022)