Seite:Ein verlorener Posten 138.jpg

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die Spitzen, der Unwissenheit und des Aberglaubens für die Basis des Volks; sie ist weder neu noch originell; sie zu widerlegen, kann ich mich nicht entschließen, so zuwider ist sie mir. Ich habe meinen Schiller übrigens auch gelesen und entsinne mich einer Stelle, die wohl auch hierher paßt:

Vor dem Sklaven, wenn er die Kette bricht,
Vor dem freien Manne erzittre nicht.

„Aber, Fräulein, woher haben Sie diesen unpraktischen Radikalismus? Uebersehen Sie denn in Ihrer romantischen Schwärmerei ganz, daß man das Volk der Sozialdemokratie in die Arme treibt, wenn man ihm seinen Glauben nimmt; daß die Masse, wenn sie nicht mehr auf die ausgleichende und rächende Gerechtigkeit in einem irdisch gedachten Jenseits hoffen kann, notwendig auf den Einfall kommt, sich lediglich mit den Zuständen hienieden zu beschäftigen? Das Volk muß etwas haben, woran es sich halten kann, und wir stürzen uns in die heillosesten und schrecklichsten Verwirrungen, wenn wir es nicht in dem kindlich-poetischen Bibelglauben zu erhalten suchen — seinem besten und schönsten Trost. Die Bildung und Aufklärung in ihren höchsten und reinsten Formen kann nie Gemeingut werden, kann nie allen zu teil werden. Von der religiösen Ungläubigkeit zur Sozialdemokratie ist nur ein Schritt, und dieser Schritt ist hier leider bereits gethan worden. Herr Hammer ist natürlich zu klug, die Politik und die sozialen Fragen im Verein zu behandeln, er beschränkt sich auf Geschichte, Litteratur und Naturwissenschaft, aber es hat sich neben dem Bildungsverein bereits ein sozialdemokratischer Arbeiterverein gebildet, und ich habe die moralische Ueberzeugung, daß Herr Hammer insgeheim den ersten Anlaß zu dieser verderblichen Gründung gegeben hat, daß er gewissermaßen der Taufpate des jungen Vereins war und ihn unter der Hand mit Rat und That unterstützt.“

Diesem Teil der Eröffnungen des Rektors gelang es, Frau v. Larisch sowohl, als die muntere Emmy nachdenklich und schwankend zu machen, und die erstere begnügte sich mit einem beinahe ein wenig kleinlauten:

„Es dürfte doch voreilig sein, sich bei einer so schweren Anschuldigung auf nichts zu stützen, als auf die eigene moralische Ueberzeugung und vielleicht, wenn's hoch kommt, auf einige vage Indizien.“

Zu einer wesentlich verschiedenen Auffassung bekannte sich Martha, mit einer ruhigen Sicherheit, mit einer furchtlosen Entschiedenheit, die niemand von dem stillen, schüchternen, allezeit nachgiebigen und fügsamen Mädchen erwartet hatte.

„Und wenn nun Herr Hammer wirklich in näheren oder entfernteren Beziehungen zu jener Partei stünde, wenn er ihr mit ganzer Seele angehörte — was folgte daraus? Für mich nicht, daß ich fernerhin meine Ansichten über Herrn Hammer, sondern daß ich meine Ansichten über seine Partei zu ändern hätte. Ich würde nicht Herrn Hammer meine Achtung und Teilnahme entziehen, weil er zur Sozialdemokratie gehört,

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Rudolf Lavant: Ein verlorener Posten. Goldhausen, Leipzig 1878 und 1902, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_verlorener_Posten_138.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)