Magdalene: Ja, er hat mir das Leben gerettet – (schnell) nein nein! (schaudernd) mehr als das Leben. –
Elise: Willst du mir nicht erzählen?
Magdalene: O ja – aber mir graut noch, wenn ich daran denke. – Ich war zum Geburtstag einer Freundin – Anna Bauer! Du kennst sie ja auch!
Elise: Natürlich.
Magdalene: Also gut: zu Anna Bauers Geburtstag war ich geladen. Es war ein herrlicher Frühlingstag und ich beschloß, nicht unsern Wagen zu benutzen, sondern zu gehen. Wir waren denn auch ungeheuer vergnügt, und als es etwa 10 Uhr war, sollte eins unserer Dienstmädchen mich abholen und in der Dunkelheit zurückbegleiten. – Elise, an dem Abend hab’ ich einmal recht gefühlt, wie kaltherzig – wie ungeniert wir oft gegen die sind, die uns mit harter Arbeit dienen.
Elise: Wieso?
Magdalene: Das Mädchen sollte den Weg allein gehen. Ist sie denn nicht auch ein Weib?
Elise: Nun, dafür ist sie eben in der Stellung des Dienenden. Außerdem – solche Personen sind seelisch und körperlich in hohem Grade abgehärtet.
Magdalene: Um so schlimmer, wenn sie das sind!
Elise: Du vergißt zu erzählen.
Magdalene: Das Mädchen kam, und wir machten uns auf den Heimweg. In der abgelegenen und stillen Gärtnerstraße kam uns ein Trupp Betrunkener entgegen, singend und johlend.
Otto Ernst: Die größte Sünde. Conrad Kloss, Hamburg 1895, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ernst_Die_groesste_Suende.djvu/10&oldid=- (Version vom 31.7.2018)