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Zu spät – zu spät erkannt!

„Ich war allein in Deinen Armen, ich starb vor Sehnsucht an Deiner Brust“ – tönten die Stimmen der Stille; das Leblose beseelte sich, um es ihm zuzurufen in den verlassenen Räumen, in denen der Athem ihrer Liebe ihn umwehte.

O, daß sie lebte! eine Stunde nur, nur einen Augenblick! so lange nur, daß er ihr sagen könnte: „Ich weiß jetzt, was Du littest – ich erfuhr es auch!“

Aber es ist vorbei, sie ruht in einem Frieden, den nichts mehr stört, nicht einmal ein Gedanke der Liebe, der sie einst beseligt hätte, nicht einmal ein Schrei flammender Reue – nicht einmal das Schmerzenswort, das Erlösungswort: „Verzeih!

Paul warf sich in den Lehnsessel vor dem Schreibtische und stützte den Kopf in seine Hand. Da blitzte ein leuchtender Punkt ihm entgegen, ein letzter Sonnenstrahl fiel herein und streifte den vergoldeten Schlüssel, der an der Schreibtischlade stak. Langsam zog er ihn heraus. Der feine Staub, der gleichmäßig vertheilt auf allen Gegenständen lag, die sie enthielt, bewies, daß sie nicht geöffnet worden war – lange nicht. Vielleicht nicht mehr, seitdem die Verstorbene den Brief hineingelegt, der ihm zuerst in die Augen fiel: sein letzter, eiliger Abschiedsgruß. „Ich kann nicht mehr kommen, wir marschiren morgen,“ hieß es darin. Das Papier war zerknittert, einzelne Buchstaben waren verwischt … Wie

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Marie von Ebner-Eschenbach: Nach dem Tode. In: Erzählungen. Berlin: Gebrüder Paetel, 1893, Seite 403. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Erz%C3%A4hlungen_von_Marie_von_Ebner-Eschenbach.djvu/409&oldid=- (Version vom 31.7.2018)