viele Küsse mußten darauf gebrannt haben, wie viele Thränen daraufgefallen sein! – Die Hand zitterte, mit der Paul den Brief bei Seite legte und mechanisch eine Mappe öffnend, in derselben zu blättern begann. Zwischen anderen Papieren fand er ein zur Hälfte beschriebenes Blatt. – Mariens wohlbekannte Schriftzüge, das Datum, drei Tage vor ihrem Tode, die Aufschrift: „Lieber Paul!“
„Du hast fort müssen ohne Abschied. Ich dachte wohl, daß es so kommen würde, und das hat mich neulich feige gemacht. Jetzt bin ich stark und muthig, wie Du es warst und leicht sein konntest, weil Du dachtest, ich seh’ sie Alle in wenigen Tagen wieder.“
Nein – er hatte es nicht gedacht, er hatte sie betrogen. Er war mit dem Entschlusse gegangen, vor der langen Trennung nicht wiederzukehren, er wollte sich nur den Aerger und die Pein eines thränenreichen Abschieds ersparen.
Sie kämpfte heldenmüthig mit sich selbst, aber daß sie kämpfen mußte, schon das verdroß ihn. Unwillig wandte er sich ab, mit harter Stimme wiederholend: „Weine nicht!“
Ach, sie gehorchte ja. Sie blickte ihm mit starren, trockenen Augen nach, kein Laut des Schmerzes drang aus ihren festgeschlossenen Lippen. Nur die Arme streckte sie unwillkürlich nach ihm aus, beugte sich vor – inbrünstig flehte ihre stumme Gebärde: „O komm zurück!“
Marie von Ebner-Eschenbach: Nach dem Tode. In: Erzählungen. Berlin: Gebrüder Paetel, 1893, Seite 404. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Erz%C3%A4hlungen_von_Marie_von_Ebner-Eschenbach.djvu/410&oldid=- (Version vom 31.7.2018)