Seite:Finnisch-ugrische Forschungen 10 008.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

gesungen hätte. Solche poetischen kollektivprodukte gibt es ja überhaupt nur in dem sinn, dass jede dichtung in gewissem masse das ergebnis der den dichter umgebenden verhältnisse ist und dass in diesem fall ausserdem jeder folgende sänger das lied seines vorgängers in einigem grade seiner eigenart entsprechend umgeformt hat. Auch lässt es sich ja nicht einmal denken, dass ein werk von dem umfang des Kalevalas nur im gedächtnis des volkes bewahrt werden könnte. Aber es ist ein volksepos erstens in der bedeutung, dass alle seine einzelnen teile von leuten aus dem volke – nicht von angehörigen der oberen stände – verfasst, von generation zu generation vererbt und vermehrt worden sind – Lönnrots eigene zutaten waren absolut belanglos. In dieser hinsicht ist es ohne zweifel viel mehr ein volksepos als die gedichte Homers oder die mittelalterlichen französischen höfischen epen. Ein volksepos ist es ferner auch in dem sinn, dass schon die karelischen sänger liederstoffe kombiniert hatten und dass Lönnrot bei dem ordnen der lieder der von den sängern begonnenen anordnung folgen konnte. Es ist schliesslich auch in dem sinn ein volksepos, dass es die trefflichste schilderung des finnischen volkslebens und zugleich ein ausgezeichnetes spiegelbild des finnischen volksgeistes ist. Lönnrots eigenes besteht darin, dass er in dem grösstenteils von den volkssängern selbst herrührenden rahmen alle verfügbaren und zu dem stoff passenden volkslieder zu einem weit grösseren ganzen, als es irgendeinem volkssänger vor ihm vorgeschwebt, zusammengefügt hat. Und bei dieser arbeit verfuhr er nicht wie ein schaffender dichter oder gelehrter, sondern wie ein reproduzierender und kombinierender volkssänger. In seinem ganzen charakter, in seinem temperament, in seiner dichterischen begabung stand er auch dem volkssänger so nahe, dass er mit vollem recht den namen des letzten und grössten volkssängers verdient.


Empfohlene Zitierweise:
Kaarle Krohn, Emil Nestor Setälä, Yrjö Wichmann (Hrsg.): Finnisch-ugrische Forschungen, Band 10. Red. der Zeitschrift; Otto Harrassowitz, Helsingfors; Leipzig 1910, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Finnisch-ugrische_Forschungen_10_008.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)