Das Kalevala als finnisches Nationalepos
Dreimal fünfundzwanzig jahre sind dahingegangen, seit zum ersten mal ein produkt des finnischen geistes in schriftlicher form fixiert wurde, das die welt der poesie mit einem neuen, selbständigen beitrag bereichert hat.
Von finnischer volkspoesie war schon vor dem erscheinen des Kalevalas einiges an die öffentlichkeit gebracht worden, und dieses wenige hatte sogar aufsehen erregt. Aber niemals hätte die herausgabe einzelner lieder das interesse erwecken können wie dieses grosse ganze, in dem gewissermassen die ganze poesie des finnischen volkes zusammengefasst hervortrat.
So ist denn auch der poesie des Kalevalas wegen ihres ursprungs und ihres wesens mehr als irgendeiner anderen finnischen erscheinung die aufmerksamkeit der wissenschaftlichen welt zuteil geworden. Sie hat gelehrte wie M. A. Castrén und Anton Reguly begeistert ein ganzes leben der finnisch-ugrischen forschung zu widmen. Überblickt man, in welchem masse finnische und finnisch-ugrische themen an ausländischen universitäten gegenstand von vorlesungen gewesen sind, so sieht man, wie gerade das Kalevala anlass und stoff zu den vorlesungen geliefert hat. Das Kalevala hat eine ganze literatur von untersuchungen hervorgerufen, in der neben einheimischen [2] forschern auch mehrere ausländische gelehrte vertreten sind. Diese literatur weist allerdings werke von verschiedenem wert auf, aber zugleich muss bemerkt werden, dass das Kalevala doch auch in der ausländischen wissenschaftlichen literatur eine so beachtenswerte untersuchung wie Domenico Comparettis „Il Kalevala“ veranlasst hat; dem durch das Kalevala wachgerufenen interesse dürfen wir auch die entstehung von John Abercrombys zweibändigem werk „The Pre- and Protohistoric Finns“ zuschreiben, das sich grossenteils mit den finnischen zauberliedern befasst – anderer zu geschweigen. In Finland selbst hat das erscheinen des Kalevalas einen kräftigen anstoss zu fortgesetztem sammeln aller gattungen der volkspoesie und zu einem umfassenden wissenschaftlichen studium derselben gegeben. Die ermittlung der zusammensetzung und entstehung des gedruckten Kalevalas gab ja Julius Krohn die eigentliche anregung zu den weitgreifenden folkloristischen untersuchungen, die zur auffindung einer ganzen wissenschaftlichen folkloristischen forschungsmethode führten, einer methode, die sich ohne zweifel auch beim studium der dichtung anderer völker fruchtbar erweisen wird. Eine fortsetzung dieser arbeiten stellt seines sohns Kaarle Krohn umfangreiches werk über die geschichte der lieder dar, welche den inhalt des Kalevala bilden, ein werk, das die kenntnis und das studium des Kalevalas auf eine ganz neue stufe gehoben hat.
Wie stark das Kalevala auf die literatur in Finland eingewirkt hat, lässt sich nicht leicht mit ein paar worten sagen. Einfluss der volkspoesie ist schon in der dürftigen literatur zu verspüren, die vor dem Kalevala erschienen war; erwähnt sei hier nur das hervorragendste produkt der älteren finnischen geistlichen dichtung, Salamnius’ „Ilolaulu Jesuxesta“, und der ein jahr vor dem erscheinen des Kalevalas veröffentlichte erste finnische versuch eines trauerspiels, J. F. Lagervalls „Ruunulinna“, in dem sowohl das versmass als einzelne personennamen [3] eine beeinflussung durch die volkspoesie bezeugen. Aber erst im Kalevala gesammelt hat diese poesie auf die ganze folgende finnische literatur eingewirkt. Ich meine hier nicht nur, dass das Kalevala denen, die wie Kivi, Erkko, Eino Leino, Larin Kyösti seinen inhalt dramatisiert haben, stoffe geliefert hat, sondern auch dass es die poetische anschauung und darstellungskunst der finnischen schriftsteller beeinflusst hat, und vor allem, dass die sprache des Kalevalas einer der kräftigsten hebel zur erneuerung, zur umwandlung der finnischen sprache in ein werkzeug für künstlerische zwecke gewesen ist.
Allgemein bekannt ist, wie das Kalevala und die finnische volkspoesie überhaupt auch den schwedischschreibenden dichtern Finlands töne und zwar vielleicht gerade die eigenartigsten und tiefsten töne geliehen hat. Aber der einfluss des Kalevalas hat sogar über die grenzen des landes hinausgegriffen. Es hat die entstehung des estnischen epos „Kalevipoeg“ veranlasst, es hat ohne zweifel an seinem teil den amerikanischen dichter Longfellow zu seiner dichtung „Hiawatha“ angeregt, deren versmass und stimmung auch sonst einflüsse seitens des Kalevala erkennen lässt. Ja einigemal sind Kalevalamotive auch in gallisches gewand gekleidet worden, wie gewisse eigenartige gedichte des franzosen Leconte de Lisle beweisen. Und die tränen des finnischen sängers haben sich fern an den herrlichen küsten des Mittelmeers zu perlen kristallisiert: Antonio Fogazzaro hat nach einem finnischen lied ein märchen von einem dichter erzählt, dessen tränen zu schimmernden perlen wurden.
Die finnischen bildenden künste haben ausgiebig motive von den finnischen epischen liedern empfangen seit den tagen, wo Erik Cainberg, schon zwei jahrzehnte vor dem erscheinen des Kalevalas, nach den Kalevalasplittern in Gananders mythologie in einem skulpturrelief Väinämöinens gesang und die heidnische kultur Finlands schilderte. Im Kalevala wuchsen die epischen gestalten ins grosszügige und nahmen klare konturen [4] an, die sie auch zur darstellung mit den mitteln der bildenden künste fähig machten. Sogar im ausland hat das Kalevala manch einen künstler schöpferisch angeregt, eigentümlich ist ja, dass früher ein tschechisches und russisches als ein finnisches illustriertes Kalevala veröffentlicht worden ist. Und auch die tonkunst hat sich beeilt an der hand von Kalevalamotiven die finnische volkspoesie zu beflügeln.
Und schliesslich die allgemeine wirkung des Kalevalas in Finland! Mehr als ein manifest irgendeines gekrönten hauptes hat es das Kalevala vermocht das finnische volk zur nation zu erheben. Die selbständige arbeit auf dem gebiete der kultur ist es, was ein volk in seinen eigenen augen wie in den augen anderer mehr als alles andere hebt, und einer solchen hebung bedarf ein volk, um höheren zielen entgegengehen zu können.
Aber es wird gefragt: gründet sich dieses an das Kalevala geknüpfte interesse und seine wirkung nicht hauptsächlich darauf, dass man das Kalevala für etwas anderes gehalten hat, als es in wirklichkeit ist?
Das Kalevala wurde ja so aufgefasst, als ob es ein monument aus alter heidnischer heldenzeit sei, ein gedicht, welches das volk einmal zu einem breitangelegten, einheitlichen homerischen epos ausgesponnen und das sich durch jahrhunderte im gedächtnis des volkes erhalten habe, aber nach und nach in kleine splitter zersprungen sei, bis Lönnrot diese splitter fand und erkannte, dass sie zusammengehörten, und das zersprungene wieder aneinanderfügte. Der stoff sei – so dachte man sich – aus dem innern des eigenen herzens des finnischen volkes hervorgebrochen, ohne beeinflussung von anderer seite. Man betrachtete es als wichtige mythologische und historische quelle, als zeugnis einer uralten goldenen heldenzeit, wo eine harmonische weltanschauung und das vertrauen auf die geistigen kräfte, im besonderen auf die kraft des wortes, im finnischen volke herrschten.
[5] Und mit was für augen betrachtet die moderne wissenschaft das Kalevala? Die forschung hat nachgewiesen, dass die lieder des Kalevalas grösstenteils nicht uralt sind, ja nicht einmal aus heidnischer zeit stammen und dass sie auf alle fälle recht viel neue stoffe enthalten. Und am allerwenigsten dürfen wir an ein altes grosses einheitliches epos denken, vielmehr haben sich die episoden, die die anderen an umfang übertreffen, erst später zu grösseren zyklen zusammengeschlossen. Jenes grosse einheitliche epos, das alle epischen lieder des finnischen volkes von den helden des Kalevalas in sich schliesst, hat es vor dem erscheinen des Kalevalas nicht gegeben, die stoffmasse der dichtung ist zu einem beträchtlichen teil nicht autochthon, sondern es steckt vieles darin, was von anderen völkern empfangen worden ist, namentlich viele mit dem christentum eingewanderte motive, die auch der phantasie des finnischen volkes nahrung gegeben haben. Das Kalevala wird sich als solches nicht zu einer quelle für die darstellung der heidnischen kultur und volksreligion eignen, da es auch ausserordentlich viel neuzeitliches enthält, was die wissenschaftliche forschung erst ausscheiden muss. Das schöne goldene zeitalter des volkslebens, von dem das Kalevala, wie man glaubte, zeugnis ablegte, hat nur in der phantasie existiert, in der sich jede zeit eine schöne, von sorgen freie welt erschaffen kann.
Wie aber, wenn diese auffassung stichhält? Ist sie dann nicht angetan dem Kalevala allen wert und alle bedeutung zu rauben? Ist das Kalevala in diesem fall nicht für die wissenschaft wertlos, und kann es dann zu künstlerischem schaffen begeistern und das nationalgefühl steigern? Beruht dann nicht alles auf einem blossen wahn?
Die forschung jeder einzelnen epoche hat selbstverständlich ihre eigenen auffassungen, und es ist natürlich, dass die phantasie zu ergänzen hat, was die wissenschaft noch nicht festgestellt hat. Es ist möglich, dass die vorstellung von der [6] uralten herkunft des Kalevalas und seiner gleichsam geheimnisvollen bewahrung im gedächtnis des volkes das interesse besonders wachrufen konnte. War doch jene auffassung von der entstehung des Kalevalas in gewisser weise selbst eine dichtung, und eine dichtung vermag ja unmittelbarer zu erwärmen als eine nüchterne wissenschaftliche auffassung. Das spiegelbild einer uralten vorzeit, das dem volke aus dem Kalevala vor augen trat, erhob gewiss die gemüter und steigerte das vertrauen auf die eigenen kräfte, dessen jedes volk bedarf und dessen steigerung dem darniederliegenden finnischen volk gerade in jener zeit von nöten war.
Aber das finnische volk hat keine ursache zu trauern, wenn die wissenschaft manche, vielleicht sogar schöne wahnbilder zerstört hat. Sie hat noch viel weitere ausblicke eröffnet. Das Kalevala, so wie wir es jetzt ansehen, ist für die wissenschaftliche forschung noch bemerkenswerter und stellt für die künstlerische phantasie vielleicht eine noch ergiebigere quelle dar als so aufgefasst, wie man es sich früher dachte.
Der wissenschaftlichen forschung erscheint heute das gedruckte Kalevala nur als eine, wiewohl die umfangreichste und bedeutendste variante unter vielen. Der name Kalevala hat sich uns zu einem gemeinschaftlichen namen für den ganzen kolossalen epischen liederschatz erweitert, den das finnische volk gesungen hat und von dessen umfang man eine vorstellung bekommt, wenn man den 1908–9 erschienenen, von A. R. Niemi herausgegebenen zweibändigen, 1500 Seiten starken ersten teil der alten lieder des finnischen volkes, der nur die epischen lieder aus Archangel-Karelien enthält, in die hand nimmt. Und ausser Finland, Russisch-Karelien und Olonez sowie Ingermanland gehört dem gemeinsamen volkspoesiegebiet auch das liederreiche gebiet des Estenlandes an, in dem Jakob Hurt seine grossartigen liederernten gehalten hat.
[7] Das gedruckte Kalevala allein wäre für die forschung eine ebenso sparsam fliessende quelle wie irgendein volkslied, das nur in einer form bekannt ist. Je mehr varianten, umso leichter lässt sich die urform herausfinden, umso leichter ist zu erkennen, welche veränderungen ein lied auf seiner wanderung von mund zu mund, von gebiet zu gebiet durchgemacht hat. Wenn ein lied mit hilfe der forschung in seine einfachsten urzüge zerlegt wird, stellt sich heraus, was modern ist, was aus alter zeit stammt, was eigenes, was entlehntes gut ist. Und lehngut ist für die forschung häufig noch bemerkenswerter als eigenes, denn die entlehnungen geben zu erkennen, auf welchen wegen sich die menschliche kultur fortgepflanzt hat. Die finnischen lieder können also ihresteils die wanderstrassen der menschlichen kultur und deren entstehung beleuchten, sie können aufklärende beiträge zur frage nach der entstehung der sog. volksepen, ja zu der frage liefern, wie das volkslied überhaupt entstanden ist, ob seine hervorbringung auf individual- oder kollektivproduktion oder auf beidem beruht. So verwertet ist also die finnische volksepik auch eine höchst bedeutungsvolle quelle für die kenntnis der vorzeit des finnischen volkes, wenn auch die darin begegnenden stoffe bis auf die gegenwart herabreichen. Sie ist zugleich eine quelle für die kenntnis des seelenlebens dieses volkes, ja der menschlichen psyche und ihrer äusserungen überhaupt. Ihre wissenschaftliche bedeutung ist also, ganz mit den augen der modernen wissenschaft gesehen, in wirklichkeit noch viel grösser als vom standpunkt der früheren zeit betrachtet.
Aber, so wird gefragt: ist denn also das Kalevala überhaupt ein volksepos oder ist es nur eine gelehrte dichtung Lönnrots? Es ist natürlich, wie ich schon andeutete, kein volksepos in dem sinn, dass es eine kollektive dichtung des volkes wäre und dass das volk das Kalevala einmal als ein solches ganzes, wie es uns in gedruckter fassung vorliegt, [8] gesungen hätte. Solche poetischen kollektivprodukte gibt es ja überhaupt nur in dem sinn, dass jede dichtung in gewissem masse das ergebnis der den dichter umgebenden verhältnisse ist und dass in diesem fall ausserdem jeder folgende sänger das lied seines vorgängers in einigem grade seiner eigenart entsprechend umgeformt hat. Auch lässt es sich ja nicht einmal denken, dass ein werk von dem umfang des Kalevalas nur im gedächtnis des volkes bewahrt werden könnte. Aber es ist ein volksepos erstens in der bedeutung, dass alle seine einzelnen teile von leuten aus dem volke – nicht von angehörigen der oberen stände – verfasst, von generation zu generation vererbt und vermehrt worden sind – Lönnrots eigene zutaten waren absolut belanglos. In dieser hinsicht ist es ohne zweifel viel mehr ein volksepos als die gedichte Homers oder die mittelalterlichen französischen höfischen epen. Ein volksepos ist es ferner auch in dem sinn, dass schon die karelischen sänger liederstoffe kombiniert hatten und dass Lönnrot bei dem ordnen der lieder der von den sängern begonnenen anordnung folgen konnte. Es ist schliesslich auch in dem sinn ein volksepos, dass es die trefflichste schilderung des finnischen volkslebens und zugleich ein ausgezeichnetes spiegelbild des finnischen volksgeistes ist. Lönnrots eigenes besteht darin, dass er in dem grösstenteils von den volkssängern selbst herrührenden rahmen alle verfügbaren und zu dem stoff passenden volkslieder zu einem weit grösseren ganzen, als es irgendeinem volkssänger vor ihm vorgeschwebt, zusammengefügt hat. Und bei dieser arbeit verfuhr er nicht wie ein schaffender dichter oder gelehrter, sondern wie ein reproduzierender und kombinierender volkssänger. In seinem ganzen charakter, in seinem temperament, in seiner dichterischen begabung stand er auch dem volkssänger so nahe, dass er mit vollem recht den namen des letzten und grössten volkssängers verdient.
[9] Und schliesslich: ist der eigentliche wert des Kalevalas, sein wert als poetisches produkt durch die ergebnisse der wissenschaftlichen forschung vernichtet worden? Ist der wert des Kalevalas als gedicht geringer, weil wir wissen, dass seine motive nicht alle auf dem heimischen boden erwachsen sind? Ist es als dichtung von geringerem wert, weil nicht alles in ihm so alt ist, wie man früher angenommen hat?
Nicht das motiv macht ja die poesie, sondern seine behandlung. Wir stehen ja nicht an Shakespeare als einen der grössten, ja vielleicht als den allergrössten dichter der menschheit anzuerkennen, obwohl seine motive entlehnt sind. Für die kunst ist es ja nicht die hauptsache, was aus alter, was aus neuer zeit stammt, sondern, was ewig ist und die zeiten überdauert. Und ewig ist, was ächte poesie ist.
Und solche ächte poesie steckt im Kalevala, eine poesie, welche auch das banale mit einem goldigen schimmer umhüllt, eine poesie, deren jedes volk, jeder mensch bedarf, um sich aus dem staub des alltags zu erheben. Man hat einmal das poetische können des finnischen volkes mit der dem könig Midas geschenkten gabe verglichen, dass sich alles, was er berührte, in gold verwandelte. Das finnische volk hat in wirklichkeit den zauberstab der poesie empfangen, dessen berührung alles in poesie verwandelte; das beweisen namentlich die zauberlieder, in denen oft fremde, an sich sehr trockene motive einen poetischen ausdruck gefunden haben. Und im Kalevala erscheinen alle seiten dieser poesie dem leser klarer und grösser als in irgendeinem einzelnen volkslied.
Möchte diese dichterische begabung in der künstlerischen produktion, nach der unsere zeit mit den bewussten mitteln der kunst streben muss, zum ausdruck kommen! Dass das Kalevala und die finnische volkspoesie überhaupt für die kunst eine unversiegliche quelle sein werden, darüber braucht kein wort verloren zu werden. Mag also die kunst motive und [10] ausgangspunkte aus dem Kalevala nehmen und mag sie vor allem den duft der poesie von den gefilden der volksdichtung bewahren, aber sie setze das werk der sänger selbständig fort, in dem bewusstsein, dass das Kalevala keine sammlung von rohstoff, sondern ein literarisches ganzes ist.
Es kommt z. b. für den dramatisator des Kalevalas nicht darauf an den inhalt der dichtung in dialogform umzusetzen, noch einmal zu sagen, was dort schon gesagt ist, sondern er soll ein wirkliches drama geben, das seine motive umdichtet, ebenso ist es nicht die aufgabe des komponisten nur den text des Kalevalas zu schildern, sondern neben die ursprüngliche dichtung eine parallele tondichtung zu setzen.
Ebenso handelt es sich auch für den illustrierenden künstler nicht darum nur den inhalt des liedes wort für wort in abbildungen wiederzugeben, sondern er selbst soll zum dichter werden, die bilder sollen durch seine phantasie und sein fühlen hindurchgehen. Gerade ein solches dichten, ein neues selbständiges dichten auf der basis der eigenen motive des volkes würde das grosse, von Akseli Gallén-Kallela als „nationalbilderbuch“ geplante Kalevala zum ziel haben: ein grosses nationalwerk, das den inhalt des Kalevala und die natur Finlands in bildern und mit dekorativen mitteln wiedergeben würde. Möchte es dem künstler beschieden sein es zu vollenden!
Auf diesem gebiet muss volle freiheit herrschen, deren grenzen nur durch die art und die zwecke der künstlerischen arbeit bestimmt werden: nur das schwächliche und minderwertige hat natürlich hier sowenig wie auf anderen gebieten existenzberechtigung, aber es verschwindet ja auch von selbst.
Und die wissenschaftliche forschung, sie gebe ihre ziele nicht auf: die wanderstrassen nachzuweisen, auf denen die lieder sich fortgepflanzt haben, die dichtung selbst bis in ihre kleinsten teile zu analysieren und zu ergründen. Diese forschung [11] wird uns ihresteils kennen lehren, wie und auf welchen wegen sich die menschliche kultur verbreitet und forterbt, sie wird – was schliesslich auch der zweck dieser wissenschaft ist – uns lehren den menschen in der mannigfaltigkeit und dem nuancenreichtum seines seelenlebens zu erkennen. Und die ergebnisse der wissenschaft – die vollständige kenntnis der motive, des inhalts und der entstehung der lieder – werden die künstlerische wirkung, die die ächte poesie auf uns ausübt, keineswegs abschwächen, sondern vielmehr verstärken.
Helsingfors. | E. N. Setälä. |