Seite:Finnisch-ugrische Forschungen 10 009.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Und schliesslich: ist der eigentliche wert des Kalevalas, sein wert als poetisches produkt durch die ergebnisse der wissenschaftlichen forschung vernichtet worden? Ist der wert des Kalevalas als gedicht geringer, weil wir wissen, dass seine motive nicht alle auf dem heimischen boden erwachsen sind? Ist es als dichtung von geringerem wert, weil nicht alles in ihm so alt ist, wie man früher angenommen hat?

Nicht das motiv macht ja die poesie, sondern seine behandlung. Wir stehen ja nicht an Shakespeare als einen der grössten, ja vielleicht als den allergrössten dichter der menschheit anzuerkennen, obwohl seine motive entlehnt sind. Für die kunst ist es ja nicht die hauptsache, was aus alter, was aus neuer zeit stammt, sondern, was ewig ist und die zeiten überdauert. Und ewig ist, was ächte poesie ist.

Und solche ächte poesie steckt im Kalevala, eine poesie, welche auch das banale mit einem goldigen schimmer umhüllt, eine poesie, deren jedes volk, jeder mensch bedarf, um sich aus dem staub des alltags zu erheben. Man hat einmal das poetische können des finnischen volkes mit der dem könig Midas geschenkten gabe verglichen, dass sich alles, was er berührte, in gold verwandelte. Das finnische volk hat in wirklichkeit den zauberstab der poesie empfangen, dessen berührung alles in poesie verwandelte; das beweisen namentlich die zauberlieder, in denen oft fremde, an sich sehr trockene motive einen poetischen ausdruck gefunden haben. Und im Kalevala erscheinen alle seiten dieser poesie dem leser klarer und grösser als in irgendeinem einzelnen volkslied.

Möchte diese dichterische begabung in der künstlerischen produktion, nach der unsere zeit mit den bewussten mitteln der kunst streben muss, zum ausdruck kommen! Dass das Kalevala und die finnische volkspoesie überhaupt für die kunst eine unversiegliche quelle sein werden, darüber braucht kein wort verloren zu werden. Mag also die kunst motive und


Empfohlene Zitierweise:
Kaarle Krohn, Emil Nestor Setälä, Yrjö Wichmann (Hrsg.): Finnisch-ugrische Forschungen, Band 10. Red. der Zeitschrift; Otto Harrassowitz, Helsingfors; Leipzig 1910, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Finnisch-ugrische_Forschungen_10_009.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)