Seite:Finnisch-ugrische Forschungen 12 143.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

die ganzen märchen, so ist die entscheidung der frage in der regel leicht. Natürlich kann es einzelne fälle geben, wo der forscher im ungewissen bleibt, ob es sich um entlehnung oder um zufall handelt, aber weitreichendere bedeutung kommt diesen nicht zu. Wilhelm Grimm äusserte hierüber schon seinerzeit: „Man begegnet märchen dieser art, wo man die übereinstimmung als zufall betrachten kann, aber in den meisten fällen wird der gemeinsame grundgedanke durch die besondere, oft unerwartete, ja eigensinnige ausführung eine gestalt gewonnen haben, welche die annahme einer bloss scheinbaren verwandtschaft nicht zulässt.“

Die übereinstimmungen in den märchen verschiedener länder beruhen ohne zweifel hauptsächlich auf entlehnung, einen sehr geringen anteil hat der zufall, und die gewöhnlichste verbreitungsart ist die mündliche tradition gewesen. Die märchen verbreiten sich durch mündliche erzählung sehr leicht von ort zu ort, von volk zu volk. Auch die verwandtschaft der völker, ja sogar die ähnlichkeit der sprachen, die der verfasser des buches auch erwähnt, sind hierbei wenig von belang, umso mehr aber die geographische nähe der völker und der dadurch bedingte intime verkehr. Bei der tatsache, dass die meisten deutschen märchen auch in Holland, Dänemark, Schweden und Norwegen verbreitet sind, spricht die verwandtschaft der bewohner dieser länder überhaupt kaum mit, sondern sie erklärt sich daraus, dass die völker dicht nebeneinander wohnen und eng miteinander verkehren. Auch die deutschen und französischen märchen sind sich ähnlich, und Forke spricht auch später davon, wie die märchen durch vermittlung einer zweisprachlichen grenzbevölkerung sehr leicht von einem sprachgebiet auf das andere übergehen, z. b. von Deutschland nach Frankreich durch Elsass-Lothringen. Zwischen Ostfinland und Nordrussland findet trotz den verschiedenen sprachen der regste märchenaustausch statt.

Indem der verfasser die indischen märchen mit den märchen anderer länder und besonders mit den deutschen vergleicht, kommt er zu dem meiner ansicht nach richtigen schluss, dass die ersteren so, wie sie in den alten sammlungen vorliegen, eine jüngere märchenform als die letzteren repräsentieren. Sie sind „nüchterner und verstandesmässiger, auch stark moralisierend“,

Empfohlene Zitierweise:
Kaarle Krohn, Emil Nestor Setälä, Yrjö Wichmann (Hrsg.): Finnisch-ugrische Forschungen, Band 12. Red. der Zeitschrift; Otto Harrassowitz, Helsingfors; Leipzig 1912, Seite 143. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Finnisch-ugrische_Forschungen_12_143.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)