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Sigmund Freud: Eine Teufelsneurose im Siebzehnten Jahrhundert. In: Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, 9. Bd., H. 1, S. 1-34

wir vor mehreren unangenehmen Möglichkeiten, unter denen die einer kollektiven Halluzination noch die mildeste wäre. Allein der Wortlaut des vom Abt Franciscus ausgestellten Zeugnisses schlägt dieses Bedenken nieder. Es wird darin keineswegs behauptet, daß auch die geistlichen Beistände den Teufel erschaut haben, sondern es heißt ehrlich und nüchtern, daß der Maler sich plötzlich von den Geistlichen, die ihn hielten, losgerissen, in die Ecke der Kapelle, wo er die Erscheinung sah, gestürmt und dann mit dem Zettel in der Hand zurückgekommen sei[1].

Das Wunder war groß, der Sieg der heiligen Mutter über Satan unzweifelhaft, die Heilung aber leider nicht beständig. Es sei nochmals zur Ehre der geistlichen Herren hervorgehoben, daß sie diese Tatsache nicht verschweigen. Der Maler verließ Mariazell nach kurzer Zeit im besten Wohlbefinden und begab sich dann nach Wien, wo er bei einer verheirateten Schwester wohnte. Dort fingen am 11. Oktober neuerliche, zum Teil sehr schwere Anfälle an, über die das Tagebuch bis zum 13. Januar berichtet. Es waren Visionen, Abwesenheiten, in denen er die mannigfaltigsten Dinge sah und erlebte, Krampfzustände, begleitet von den schmerzhaftesten Sensationen, einmal ein Zustand von Lähmung der Beine und dgl. Diesmal plagte ihn aber nicht der Teufel, sondern es waren heilige Gestalten, die ihn heimsuchten, Christus, die heilige Jungfrau selbst. Merkwürdig, daß er unter diesen himmlischen Erscheinungen und den Strafen, die sie über ihn verhängten, nicht minder litt, als früher unter dem Verkehr mit dem Teufel. Er faßte auch diese neuen Erlebnisse im Tagebuch als Erscheinungen des Teufels zusammen und beklagte sich über maligni Spiritus manifestationes, als er im Mai 1678 nach Mariazell zurückkehrte.

Den geistlichen Herren gab er als Motiv seiner Rückkehr an, daß er auch eine andere, frühere, mit Tinte geschriebene Verschreibung


  1. … ipsumque Daemonem ad Aram Sac. Cellae per fenestrellam in cornu Epistolae Schedam sibi porrigentem conspexisset eo advolans e Religiosorum manibus, qui eum tenebant, ipsam Schedam ad manum obtinuit, …
Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud: Eine Teufelsneurose im Siebzehnten Jahrhundert. In: Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, 9. Bd., H. 1, S. 1-34. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Leipzig und Wien 1923, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Freud_Imago_9-1.djvu/6&oldid=- (Version vom 1.8.2018)