In unserem fortgeschrittenen Zeitalter sollte man erwarten, daß eine Verminderung der Verbrechen erfolge, ganz besonders, daß Morde nur noch zu den Seltenheiten gehören. Daß in der sogenannten guten, alten Zeit weniger Verbrechen vorgekommen sind, kann allerdings nicht behauptet werden. In der vormärzlichen Zeit wurden Gerichtsverhandlungen unter Ausschluß der Öffentlichkeit geführt. Das Zeitungswesen war so wenig entwickelt, daß die Öffentlichkeit von begangenen Mordtaten nur spärlich etwas erfuhr. Es gewinnt aber fast den Anschein, als ob der kulturelle Fortschritt der Zeit wenig zur Verminderung von Kapitalverbrechen beigetragen hat. Im Gegenteil, der Fortschritt der Kultur hat nur bewirkt, daß ein größeres Raffinement bei Ausübung der Kapitalverbrechen angewendet wird. Daß ein Rittmeister, während er die von ihm befehligte Schwadron in der Reitbahn aufreiten läßt, ermordet wird, ist ein so ungeheuerlicher Gedanke, daß man ein solches Vorkommnis für unmöglich halten sollte. Und dennoch ist das Unglaubliche geschehen. In der Nähe der russischen Grenze, im äußersten Osten der preußischen Monarchie, einige Stunden hinter Königsberg liegt das freundliche Städtchen Gumbinnen. Die Stadt ist Sitz einer Regierung und einer Oberpostdirektion und hat, wie alle Grenzstädte, eine starke militärische Besatzung. Einige Industrie wird betrieben, in der Hauptsache beschäftigen sich aber die Bewohner Gumbinnens mit Vieh-‚ insbesondere mit Pferdehandel und Landwirtschaft. Eine
Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 1. Hermann Barsdorf, Berlin 1910, Seite 178. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_1_(1910).djvu/182&oldid=- (Version vom 31.7.2018)